55
heute unter Fond Chantilly verstehen, ist nichts anders als jener
fond chant mit seinen Sechsecken, zwischen denen kleine Drei
ecke eingefügt sind. Man nannte ihn endlich fond champ, wegen
der Entstehung dieser Spitzenart am Lande ausserhalb Paris.
Chantilly excellirte dann im 18. Jahrhundert besonders mit
schwarzen Spitzen von blondenartigem Charakter, deren Dessins
schon ganz naturalistisch entworfen sind. Die Herzogin von Lon-
gueville, Caterine de Rohan, war die Gründerin dieser Industrie
zu Beginn des 17. Jahrhunderts, stiftete Schulen und berief Arbei
terinnen aus Havre und Dieppe. Die Blonde, dieses zarteste Product
der Spitzenfabrikation, gedieh hier auf das zierlichste und im
weich es ten Seidenglanze des Materials. Chantilly, welches heute
wieder 10.000 Arbeiter beschäftigt, war zur Zeit der Revolution
entvölkert, als die wahnsinnige Wuth des Volkes soweit gediehen
war, seine Brüder, wieder ouvriers und Söhne des Volkes, auf
die Guillotine zu liefern, weil sie Spitzen fabricirt hatten für die
— Königin.
Die Normandie repräsentirt durch Caen, le Havre, Bayeux
und Dieppe in älterer Zeit unser Fach nicht minder brillant. Anden
Meeresküsten bildete seit dem 16. Jahrhundert die Spitzenklöp
pelei die alleinige Beschäftigung der Fischerfrauen und Mädchen,
deren man im Jahre 1692 zwei und zwanzig Tausend zählte. Die
malerische Tracht der Normannischen Bäuerin mit dem hohen
Spitzenkogel am Haupte, von dem grosse Spitzenborten schleier
artig herabwallen, ist bekannt; aber man fertigte auch Spitzen
für die städtische Mode in zahlreichen Orten der Provinz. Colbert
baute auf die alte Industrie von Havre seinen Plan, um damit
ein Gegengewicht gegen jene der Niederlande zu finden. Die Spitze
von Dieppes schloss sich an das Vorbild des Valenciennes, auch
der Malines an; in der sogenannten dentelle ä la Vierge, welche sich
durch einen unendlich feinen, aus zierlichen Sternchen zusammen
gesetzten Fond auszeichnet, hat sie eine sehr seltene jetzt abge
kommene Abart. Ein anderes, vorzüglich feines Muster, nannte man
Poussin. Caen endlich lieferte im vorigen Saeculum die schönsten
Blonden, wozu man chinesische Seide aus Nanking verwendete.
Sie übertreffen jene von Chantilly an Qualität des Materials und
Delicatesse der Technik, standen ihnen aber im künstlerischen