Die Gablonzer Industrie, in: Bericht der Handels- und Gewerbekammer in
Reichenberg über die geschäftlichen Verhältnisse ihres Bezirkes im Jahre 1896,
S. 74-94 (in Auszügen)
Allgemeine Lage. Für die sogenannte Gablonzer Industrie, die Erzeugung von Glaskurzwaren,
Quincaillerie, Bijouterie, Schmuckgegenständen aus unedlen Metallen und Glas etc. etc., war
das Jahr 1896 ein überaus ungünstiges, so ungünstig, als kaum je eines zuvor.
Wenn einerseits diese Industrie, eine Exportindustrie im eminenten Sinne des Wortes, durch die
ungünstige Lage des Weltmarktes im Jahre 1896 ganz besonders in Mitleidenschaft gezogen
wurde, so bewirkten anderseits die eigenthümlichen Arbeitsverhältnisse dieser Branche, die fast
ausschliesslich auf dem Verlagssystem, der Heimarbeit beruht, durch den Mangel jeder Regel
mäßigkeit in der Production, wie ihn die Fabriksindustrie doch immer mehr oder weniger auf
weist, eine außerordentliche Verschärfung der durch jene allgemeinen Verhältnisse erzeugten
Deroute.
Die Arbeitermassen, die durch Jahre in einem Artikel lohnende Beschäftigung gefunden, drän
gen sich naturgemäß, wenn dieser Artikel durch irgendwelche äußere Verhältnisse, wie dies jetzt
z. B. in besonders hohem Maße in der Knopfbranche der Fall war, zu denjenigen Artikeln, welche
noch einigen Verdienst abwerfen und verursachen auf diese Weise bald auch eine Überproduc-
tion dieser Artikel und ein unverhältnismäßiges Herabgehen der Preise und Löhne für dieselben,
welches noch unterstützt wird durch den auf ein Unterbieten im Preise gestützten Versuch zahl
reicher kleinster Leute den Verleger zu umgehen und - wiewohl ohne hinreichende Kenntnis der
Export= und Absatzverhältnisse dessen Profit in die eigene Hand zu bringen.
Der Erfolg dieses Strebens, so unanfechtbar dieses auch sonst sein mag, ist in der Regel nicht
der gewünschte, sondern die hiedurch hervorgerufene und vermehrte Plan= und Regellosigkeit
der Production und Preisbildung führt zum vollständigen Untergange der einzelnen Artikel, de
nen in der Regel keinerlei Gebrauchswert, sondern nur ein auf Mode, Geschmack etc. begrün
deter Affectionswert innewohnt.
Bei einzelnen Artikeln haben technische Fortschritte, die die Überproduction nur vermehren hal
fen und die hiedurch den Luxusartikeln, die einzig als solche Wert und Bedeutung hatten, ihren
Charakter nahmen, zu einem weiteren Niedergange der betreffenden Industriezweige geführt.
Nur wer Neuheiten zu bringen in der Lage ist, kann, sobald diese Anklang finden, noch bessere
Preise erzielen. Bei den massenhaft freien Händen dauert es jedoch nicht lange, bis der Artikel
allseits nachgeahmt und der Preis in außerordentlicher Weise heruntergedrückt wird. Der Pa
tentschutz kann hier in der Regel nicht eingreifen und der Musterschutz wie er besteht, erweist
sich diesen Verhältnissen gegenüber als unzulänglich.
Was speciell die Exportverhältnisse anlangt, so haben in einigen Hauptabsatzgebieten der Ga
blonzer Artikel eingetretene und zufällig gerade im Berichtsjahre sich übermäßig häufende
nachtheilige Momente sehr ungünstig eingewirkt.
Namentlich was Nordamerika betrifft, so haben die bereits eingetretenen oder erwarteten Zoll
verhältnisse einerseits, sowie in gewissen Zweigen, wie z. B. in der Krystallerie, die eigene durch
Zölle und eine fortschrittliche Technik unterstützte Production andererseits dieses bisher immer
noch dankbare Absatzgebiet unserer Industrie mehr und mehr entfremdet.
Namentlich aber droht durch den neuen Zolltarif, wenn derselbe zum Gesetz erhoben wird, der
Gablonzer Gegend ein weiterer Entgang an Arbeit.
In BritischHndien war der Absatz bis zum Herbste quantitativ befriedigend, ließ jedoch qualitativ
Manches zu wünschen übrig, da die Preise verschiedener Massenartikel wie z. B. der Glasarm
bänder auf ein noch nie dagewesenes niedriges Niveau sanken.
Im Herbste kam der Export beinahe gänzlich zum Stillstand, da sich die Anzeichen einer bevor
stehenden Hungersnoth mehrten und auch die Beulenpest auftrat.
In Brasilien war es die seit dem zweiten Halbjahre eingeführte bedeutende Zollerhöhung, welche
hemmend auf das Geschäft wirkte, ebenso die bedeutenden Cours=Sprünge, welchen die dor
tige Valuta unaufhörlich ausgesetzt war, so dass den Importeuren jede Basis zur Calculation
fehlte. Der Milreis, dessen Pari=Wert 27 Pence beträgt, wertete im
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