Maurizio Bonicatti
DIE KÜNSTLERISCHEN PROBLEME DER SPÄTROMANTIK
1. DER MYTHOS DES FERNEN OSTENS
Die erste größere Aufnahme von orientalisierenden künstlerischen Elementen in die
europäische Kunst trat im 17. Jahrhundert in Holland auf. Dieses historische Phänomen
der Öffnung gegenüber dem Fernen Osten zeigte sich zunächst in den Handwerks
artikeln der Niederlande. Im 19. Jahrhundert hatte die abendländische Wiederent
deckung des Ostens einen anderen Charakter, wirkte jedoch auf dieselben theoretischen
Auffassungen der bildenden Künste. Vor allem die französischen Maler interpretierten
und deuteten Japan in intellektuellem Sinn und im Rahmen des großen Phänomens
der Esoterik, das während des gesamten 19. Jahrhunderts jedes Gebiet der euro
päischen Kultur beeinflußte. Die mythische Deutung Japans drängt uns also dazu,
als erstes — nicht nur in zeitlicher Folge — den eigentlich ideologischen Aspekt ins
Auge zu fassen, in dem die europäische Kultur den Fernen Osten betrachtet hat.
Die anderen verschiedenen Blickwinkel, unter denen die österreichische Welt der
Sezession nach und nach mit Japan Verbindung aufgenommen hat, sind Aspekte
auch technischen Charakters: eine einführende Abhandlung über dieses Phänomen
müßte sowohl über die verschiedenen künstlerischen Techniken ■— beginnend mit
der Architektur — detailliert Aufschluß geben, als auch über die kulturellen Verbin
dungen zwischen England und Österreich, über die Verzweigungen der orientalisie
renden Esoterik, die vor allem während der Wiener Secession um 1900 stattgefunden
haben.
Es ist unentbehrlich, daß wir unsere Betrachtungen über grundlegende Themen sehr
vorsichtig entwickeln: man darf nicht vergessen, daß die Epoche der Secession zu
den weniger gründlich erforschten gehört, sowohl in den internationalen und inter
disziplinären Aspekten der europäischen Kultur, als auch in Hinsicht auf die Rolle
der spätromantischen Musik, die von der zeitgenössischen Kritik immer vernach
lässigt worden ist. Eine Untersuchung über den Fernen Osten und dessen Beziehung
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