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oder Tod bringende Erdgottheiten und unheimliche Dämonen mit
Menschenopfern und orgiastischen Riten zu versöhnen suchend.
In der Steppe herrschte der Nomade und Halbnomade, sich vom
Viehräuber zum Eroberer, Adligen, Händler entwickelnd, und er
verehrte Gottheiten nach seinem eigenen Bilde, wilde Kriegs-
gesfalten, himmlische Herrscher, Schützer des Rechtes und der
Sitte. Aus der Verflechtung beider Gesellschaftsformen, in perio
disch aufeinanderfolgenden Eroberungen und Kolonisationen des
Dschungellandes — einst, vor der Abforstung, viel ausgedehnter
als heute — durch profomediterrane und mediterrane Einwan
derer, durch die Träger der mit der altsumerischen verwandten
„Indus'- oder „Harappa'-Kultur, durch die den Persern nahe
stehenden Arier, Skythen und Parther, durch buddhistische und
muslimische Türken, und schließlich durch kleine Gruppen von
Negern, Arabern, syrischen Christen, Juden, Parsen und Europäern
ist die eigentliche indische Kultur entstanden. So ist sie viel
gestaltig und doch zugleich einheitlich geworden, wesentlich
kolonial-feudal in ihrer Struktur. Die Eroberer drückten die Unter
worfenen zu Leibeigenen und Sklaven herunter. Aber die
Eroberer wurden wiederum von neuen Einwanderern abgelöst
oder in ständigen Kriegen aufgerieben und in die einheimische
Gesellschaft absorbiert. Es entwickelte sich so eine Unzahl von
„Kasten”, welche jedoch letzten Endes nur vier Stände bildeten,
den Lehrsfand (Brahmanen, Yogins, buddhistische und Jaina-
Mönche), Wehrstand (Kshatriyas), Nährstand (d. h. Grundbesitzer
und Bürger, Vaishyas) und Leibeigene (Sudras), während die
eigentlichen Wilden als „Unberührbare" (Parias) außerhalb der
Gesellschaft standen und nur zu den entwürdigendsten Diensten
herangezogen wurden. Infolgedessen bestand ein weiter Spiel
raum für die verschiedensten Kulturstufen, von dem hochverfei-
nerfen Luxus der Fürsfen und Adligen und dem reichen Auf
wand der Tempel (bei individueller „Weltenfsagung" der Priester
und Mönche) zu dem bescheiden-gepflegten Lebensstil des
Mittelstandes und der Armut und Unwissenheit der Leibeigenen
und Ausgestoßenen. Während so die letzteren der Kultur des
Dschungels mehr oder minder treu blieben, nur in Sprache,
Tracht und den Namen der Gottheiten sich der herrschenden
Zivilisation anpassend, besaßen die ersferen alle Möglichkeiten
eines hochverfeinerfen Kulturlebens. Solange dieses durch die
ganze Geschichte des Landes bedingte Gesellschaftssystem an
erkannt wurde, bestand der weiteste Spielraum der Meinungen
und des Geschmacks. Weil aber dieses System mit bestimmten
Ideen, der Standesunferschiede und der sie „verursachenden”
Seelenwanderung, und so weiterhin mit einem gesamten Welt
bild, Ritual und Sittenkodex verknüpft war, so war es unaus
bleiblich, daß alle Eroberer früher oder später sich diesem
Lebensstil anpaßten und einen Platz innerhalb der oberen
Stände fanden und daß auch die zahlreichen Reformationen
und Revolutionen dagegen sich immer wieder eingliederten,
entweder als neue Spielarten der Orthodoxie oder als neue
Gruppen Ausgestoßener. Es war eine Frage der Macht und der
Kompromisse. Und so wurde auch alles primitive wie auch aus
ländische Kulturgut so umgebogen und umgedeutet, daß nur
eine sehr sorgfältige Untersuchung seinen wahren Ursprung ent
decken kann. Die indische Kultur ist auf diese Weise scheinbar
verwirrend kompliziert geworden und doch wieder klar und
übersichtlich, insofern jene zahllosen Spielformen sich immer
wieder auf ein paar Grundvorstellungen reduzieren lassen. Na
türlich hat im Laufe der Geschichte der Akzent oft genug ge
wechselt, sind die Kasten unerbittlich starr oder fast gleichgültig
geworden, hat bald diese, bald jene religiöse Strömung über
wogen, ist fremder Einfluß Mode geworden oder in einer er
neuerten Nationalkultur aufgegangen.
Geschichtlicher Hintergrund:
So hat das Bild Indiens im Laufe der Geschichte ständig ge
wechselt und ist im einzelnen ungeheuer verwickelt. Jedoch läßt
es sich zu ein paar wesentlichen Typen zurückführen:
1. DIE „INDUS - ODER „HARAPPA”-KULTUR, im 3. und während
des größfen Teiles des 2. Jahrtausends v. Chr. im Industal, der
oberen Gangesebene und in Gujaraf blühend, den Kulturen des
Alten Orients, vor allem denjenigen der Bergländer nördlich
Mesopotamiens, verwandt, jedoch nur entfernt ähnlich: Etwa
hundert Handelsplätze, anscheinend von zwei Großstädten, Mo-
henjo-Daro und Harappa, aus durch eine Priester- und Kauf-
mannsaristokrafie regiert, die wahrscheinlich aus Vorderasien
eingewanderte Oberklasse mit Bronzewaffen, Silberschmuck, Fay
ence, Glas, Edelsfeinen, Baumwolle usw. vertraut, das einheimi
sche Proletariat noch Steininstrumente und primitive Töpfereien
und Tonschmuck verwendend. Kult einer Muftergöttin, heiliger
Bäume, eines gehörnten Fruchtbarkeitsgottes. Im rechten Winkel
sich kreuzende kanalisierte Straßen, Häuser um Innenhöfe, Hoch
tempel, heilige Bäder, kleine Kalkstein- und Bronzestatuen, Steatit-
siegel mit Tier- und Kultdarstellungen und einer noch nicht end
gültig entzifferten Schrift.