91
Die archaische Strenge und Schwere, die von der Maurya-Kunsl
bis zur Kushana-Plastik von Mathura forfdauerte, der ikonogra-
phische und formale und sogar fremdartige Reichtum, den die
Künstler der Landschaff Gandhara auf indischem Boden heimisch
gemacht hoffen, und schliefjlich die Selbstbewuljtheit und Selbsf-
genügsamkeit künstlerischer Übung und Spielfreude an der schö
nen Form vereinigten sich im Zeitalter der Cupfas zur klassischen
reifen indischen Kunst. Auch in Dichtung, Philosophie, Musik und
Tanz stellte die künstlerisch interessierte Dynastie, die vom 4. bis
6. Jahrhundert und nach wechselvollen Schicksalen wie den
Fremdvölkereintöllen noch bis zum 8. Jahrhundert regierte, der
sogenannten Nach-Gupta-Zeit, den Höhepunkt im politischen und
kulturellen Geschick Indiens und eines grotjen Teils von Südost
asien dar. Gesicherte staatliche Verhältnisse ermöglichten die
Förderung von Wissenschaft und Kunst, und am Hofe oder in Ver
bindung mit führenden Meistern aus höfischen Kreisen wurden
die Formen der Bau- und Bildkunst geschaffen. Zum letzten Male
haben auf dem Boden des heutigen Indien alle drei Religions
gemeinschaften gleichen Anteil an der allgemeinen Kulturhöhe
und Toleranz. Während die Buddhisten in Höhlenheiligtümern
und an Stupen überlieferte Kunstmittel pflegten, bilden Hindus
und Jainas im Freibau in zunächst kleinem zellenartigem Format
einen neuen Bautypus aus, der in der Folgezeit das Bild der in
dischen Landschaft bestimmen sollte. Im dunklen Innern des Tem
pels befinde! sich in einem höhlenarfigen Raum das steinerne
oder bronzene Kultbild, das der Beter bei seiner Verehrung durch
eine Blumen- oder Reisspende nur im Dämmerlicht und in
der Vorderansicht betrachtet. Im grellen Lichl der Tropensonne
werden an der Aufjenwand der Tempel Wesen und Handlungen
der Gottheit in Stein- oder Terrakottareliefs anschaulich darge
stellt. Proben beider Biidgattungen können wir ausstellen. Neben
her läuft weiter volkslümliches Kunsthandwerk in Tontigürchen
kleinsten Formats. Allen Beispielen gemeinsam ist eine gewisse
innere Gröfje der Auffassung. Die indischen Künstler haben die
Natur des Menschen und die physiologischen Besonderheiten sei
ner Gestalt studiert und stellen ihre Kenntnisse in den Dienst
einer idealen Erfassung des Götterbildes. Nach uralten Geboten
und Verboten vermeiden sie eine „realistische’ Wiedergabe von
anatomischen Einzelheiten, und doch sind Gliedmafjen und Kör
perteile von nalurhaflen Vorbildern aus dem Pflanzen- und Tier
reich abgezogen und in einer neuen künstlerischen Einheit mil
einander zu etwas Ganzem verschmolzen. Nie zuvor und niemals
nachher ist eine solche Harmonie von Gegenstand und Form,
7 Die Gupta-Zeit
THE GUPTA PERIOD: The archaic severify and massiveness of
the art of the Maurya and Kushana periods, the wealth in icono-
graphy and form displayed by the Gandharan artists, and lastly,
the delight in life and beauty during the golden age of fhe
Gupta dynasty combined fo form an Indian ’classical art”. Na
tional genius was expressed in all the arts, in literature, music,
philosophy and dancing. Art in ancienf India reached ifs zenith
during the Gupta period. For the last time, on Ihe soil of India
as she is today, the three great religious communities bore an
equal share in bringing about the high Standard of culture and
tolerance. The Buddhists continued to use their cult caves while
the Hindus and Jains conceived a new type of stone built temple
which was to become the dominafing form of building in the
following centuries. In fhe cenfre of the dark inferior of the temple
stood the cult Image of the deity. On the outside walls in
the bright sunlight, fhe worshippers could see the temple god in
stone or terracotta relief. The ancient Orders and regulafions for-
bade ”realism" in the reproduction of anatomical detail; all fhe
Same, flowers and animals were the artist's models and were
combined in a new artistic unity. Never before and never after-
wards was such harmony of objecf and form, mind and matter
attained. We shall see some excellenf examples from local mu-
seums such as Sarnath, Gwalior (Cat. 180) and Mathura as well
as from Ihe valuable colleclions of the National Museum in New
Delhi (Cat. 153) and the Indian Museum in Calcutta.
Bibliographische Notizen: V. A. Smith, Indian sculpturo ol the
Gupta period. OSTASIATISCHE ZEITSCHRIFT 3, 1914/15. —
S. Kramrisch, Die Figuralplastik der Gupta-Zeit. WIENER BEI
TRÄGE ZUR KUNST UND KULTURGESCHICHTE ASIENS 5, 1929/30.
— S. K. Sarasvati, Temple architecture in fhe Gupta age. JOUR
NAL OF THE INDIAN SOCIETY OF ORIENTAL ART 8, 1940. —
A. Banerji, Gupta sculpture from Benares. A study. In: B. C. Law,
Vol. I, Calcutta 1945. — V. S. Agrawala, Gupta art. Lucknow
1948. — M. S. Vats, The Gupta temple al Deogarh, 1952. Me-
moirs of the Archaeological Survey of India 70. Calcutta und
New Delhi.