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graphischen Konzepte und Arbeiten an der funk-
tionaien Ausweitung und künstlerischen Durch
dringung der Gebrauchs- und Werbegraphik ge
arbeitet. Die poiitischen Verhältnisse iießen es
jedoch nicht zu, daß Joseph Binder an der
Schuie, der er so viei zu verdanken hatte, seine
künstlerischen Erfahrungen und Erkenntnisse an
Schüier weitergeben konnte. Es war den Ver
einigten Staaten Vorbehalten, ihn als Gastlehrer
zu berufen. Als solcher, als Graphiker und frei
schaffender Künstler konnte er in den Jahren ab
1933 vieles von dem europäischen Geiste der
Aufbruchsgeneration von 1900, dem Ethos der
ersten Generation von Gebrauchsgraphikern so
wie von den in Wien beheimateten Gestaltungs
prinzipien an seine Schüler weiterreichen. Mit
Aussteliungen und zahireichen Anerkennungen
lohnte es ihm das Gastland, das ihm im Laufe
der Jahre zur zweiten Heimat geworden war.
Fünfzig Jahre nach seinen Anfängen kehrte
Joseph Binder im Jahre 1972 wieder nach Wien
und an die Stätte seiner Ausbildung zurück. Dies
mal jedoch nicht als der prominente und aner
kannte Gebrauchsgraphiker, sonder als ein frei
schaffender Maler mit autonomen bildnerischen
Werken. Mit einer Ausstellung in der großen
Halle des österreichischen Museums für ange
wandte Kunst zeigte er 75 Arbeiten, großforma
tige Acrylbilder, Pastelle und Federzeichnungen
aus den Jahren 1965 bis 1971. Alle diese Werke
— Binder nannte sie „Bilder der Stille“ — verrie
ten einen Künstler, der unter Verzicht auf die
Außenwelt, auf die Figürlichkeit, auf Abbild und
Zeichen gestaltete. Seine Farbfelder waren kei
ner Raum- und Zeitproblematik mehr unterwor
fen, sondern evozierten das „Nichts“, das aber
durch seine „Stille“ zu einem „Alles“ wurde, das
„das Maß, die Ordnung, die Harmonie, das Un
endliche“ ahnen ließ. Diese letzte schöpferische
Epoche mit ihrer Reduzierung des Sichtbaren
bis an seine äußersten Grenzen, diese inmateriel
len Vorstellungen von Licht, Farbe und Raum
müssen als ein ganz persönlicher Beitrag Joseph
Binders zu der in den sechziger Jahren sich in
den Vereinigten Staaten enfaltenden „non objec-
tive art“ angesehen werden. Sie können aber
auch als die äußerste Konsequenz des Österrei
chers und Wieners Joseph Binder bei der strik
ten Befolgung des seit Beginn des 20. Jahrhun
derts in Wien geltenden Gestaltens im Sinne
einer Humanisierung und Spiritualisierung der
künstlerischen Disziplin gelten.
w. Hofrat Prof. Dr. Wilhelm Mrazek
Direktor des österreichischen
Museums für angewandte Kunst