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6 Erinnerungen Binders
Man ist zum Künstler geboren. Ich erinnere mich
an meine erste Zeichnung, die eines russischen
Reiters in der Zeit des russisch-japanischen
Krieges 1904—1906. Vater lehrte mich multipli
zieren, dividieren; ich unterhielt mich damit,
während die anderen Kinder spielten.
In meiner Jugend eignete ich mir grundlegende
Kenntnisse in einer der größten Druckereien und
Verlagsanstalten an. In dieser Zeit nahm ich an
einem Plakatwettbewerb für ,,Vertex Glühlam
pen“, Berlin, teil. Ich erhielt den siebenten Preis,
der zur Druckausführung bestimmt wurde. Der
Maler Vertes nahm ebenfalls an diesem Wett
bewerb teil. Lucian Bernhard erhielt den ersten
Preis in der Höhe von 1000 Mark.
Ich zeigte bereits früh ein spezielles Interesse
für Plakate und war meiner Begabung sicher.
1915 besuchte ich die Kunstschule für Maler
von Professor Robert Scheffler, um mich für die
Aufnahmeprüfung an der Akademie für bildende
Künste vorzubereiten.
Mein Vater starb am 29. Dezember 1913. Mit
Hilfe meines Freundes Vinzenz führten wir große
Kino-Plakate aus, so daß ich der Familie helfen
konnte.
Ich erinnere mich an das Plakat, das für eine
Mädchenschule auszuführen war, welches einige
Male zurückkam. „Das Mädchen pfeift.“ ,,Ein
Mädchen pfeift nicht“, war das Verdikt der
Schulautoritäten. Bestürzung und Protest in der
lithographischen Abteilung. „Sie lacht doch nur,
sie pfeift doch nicht!“ Endlich wurde ein Aus
weg gefunden, der Mund wurde größer gemacht,
was ich schon zu Anfang angedeutet hatte.
Am 5. Jänner 1916 wurde ich zur Militärdienst
leistung einberufen und am 1. April zum Deutsch
meister-Regiment der österreichisch-ungari
schen Armee eingezogen, dem ältesten Regi
ment der Monarchie, welches schon an der Ver
teidigung Wiens in den Jahren 1529 und 1683
teilgenommen hatte.
Ich zeichnete immer nach der Natur. Ich malte
im Krieg. Alle meine Zeichnungen, die ich zu
dieser Zeit besaß, gab ich meinem Onkel, um
die Eingabe für mein Offizierstraining einzurei
chen. Die Zeichnungen gingen verloren. Das
Regiment, zu dem ich eingezogen war, wurde
neu aufgestellt. Ich wurde zum einundzwanzig
sten Regiment transferiert, in dem einige der
Nationen der österreichisch-ungarischen Monar
chie eingereiht waren, Österreicher, Polen,
Tschechen, Kroaten, Ungarn. Die Kommandos in
tschechischer Sprache konnten wir nicht ver
stehen. 1917, an der rumänischen Front, war
„Jednadvacäty Regiment“ das Kommando zur
Attacke. Ich höre heute noch das Signal des
Trompeters. Ein Schrapnell traf seinen linken
Arm. Er fiel um, tot. An der Front in den Transil-
vanischen Bergen waren die toten Soldaten, sechs
übereinander, in langen Reihen zum Begräbnis
vorbereitet, durch lange Stöcke gestützt, damit
sie in dem gebirgigen Terrain nicht abrutschten.
Am 10. November 1918 kam ich nach Wien zu
rück. Wieder zu Hause. Keine Fahrgelegenheit.