HEINRICH SUSSMANN - 75 JAHRE
ZUM ALTE RS WERK DES KÜNSTLERS
Die seit 1900 abgelaufenen Jahre lassen im Rückblick Ereignisse, Entwicklungen und
Schicksale von Völkern, Staaten und Einzelmenschen im apokalyptischen Ausmaße er
kennen. Bereits seit der Jahrhundertwende gingen die Uhren in Europa anders, schlug das
Pendel der einander ablösenden Zeitereignisse schneller und heftiger aus, folgten auf
Aktionen immer gewaltsamere Reaktionen, hatten die gesellschaftlichen Verhältnisse, das
Leben und die Einzelexistenz eine tragische Dynamik bekommen. Wie von einem Mal
strome wurde Traditionelles und Altgewordenes, die Staaten, die Völker und die Einzel
menschen verschlungen, vernichtet oder gänzlich ausgelöscht. Das Überleben wurde zum
Abenteuer und war nicht mehr abhängig vom eigenen Ich, sondern von Schicksals
mächten, die alles und jeden bedrohten — aber dennoch für manche auch das zuließen, was
man allgemein als ein Wunder, als das Wunder des Überlebens, bezeichnen kann.
Für niemand hat diese Situation mehr Gültigkeit als für alle jene Menschen, die auf Grund
ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volke verfemt wurden und in die Konzentrationslager
kamen, vor allem in das Vernichtungslager Auschwitz — und diese Jahre des Grauens in
dieser Hölle überlebten und nach ihrer Befreiung zurückkehren konnten, in eine mensch
liche Gesellschaft, die sich wieder auf jene Werte zu besinnen begann, für die im Dekalog
des Alten Testaments die ewiggültige Basis des menschlichen Zusammenlebens gelegt
worden ist.
Heinrich Sussmann, dem diese Ausstellung anläßlich seines 75. Geburtstages gewidmet
ist, kann als Künstler und Mensch ohne diesen Zeitenhintergrund nicht gesehen werden.
Will man seinem Werk gerecht werden, muß man darauf hinweisen, daß die Arbeiten aus
der ersten Lebenshälfte vor 1945 alle zerstört wurden und daß auf Grund seines persön
lichen Schicksals sein Erlebnishorizont von anderen Dimensionen als der des Normal
bürgers bestimmt ist. Erst nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager in
Auschwitz im Jahre 1945 konnte er wieder beginnen, sein Leben als Künstler neu einzu
richten. In den bisher vergangenen Jahren war er auf allen Gebieten der freien und ange
wandten Kunst tätig, vorwiegend jedoch als Graphiker, als Buchillustrator und als Maler.
In vielen Ausstellungen im In- und Ausland machte er auf sich aufmerksam, und
zahlreiche Museen und Sammlungen erwarben Arbeiten von ihm. Was ihm die Ungunst
der Vor- und Kriegsjahre in der ersten Lebenshälfte kaum gewährte, nämlich jene selbst
verständliche, allgemeine Anerkennung seines Talentes, den Erfolg und eine halbwegs
auskömmliche Existenz, wurden ihm erst jetzt zuteil. Einen besonderen Höhepunkt
erreichte er schließlich mit der Ausstellung seines Zyklus von Glasgemälden für den
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