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GELEITWORT
Das Wertvolle, das diese Entwicklung gebracht hat, sollte nun nicht
etwa geopfert werden: die Einsicht, daß Kunstschöpfungen aus ein und
derselben Epoche am besten zusammenklingen und sich steigern, während
solche verschiedener Zeiten in einem Raum sich oft bitter befehden und
stören, ist selbstverständlich auch hier verwertet worden. Ebensowenig
wurde auf die Möglichkeit verziditet, das geistige Schicksal unseres Volkes
m drei ereignisschweren Jahrhunderten anschaulich werden zu lassen.
Jeder, der die Säle der Schau vom Beginn bis zum Ende durchschreitet,
erlebt dieses Schicksal mit. Anderseits aber wurde von aller Systematik,
von aller Vollständigkeit im wissenschaftlichen Sinn abgesehen. Mit
Konsequenz wurde, was nur als Forschungsproblem von Interesse gewesen
wäre — und davon gibt es hier noch viel —, schon bei der Auswahl weg
gelassen. Nur Meisterwerke des höchsten Ranges sind aufgenommen, und
wenn einmal auch für eine längere Zeitspanne kein solches edelstes Zeug
nis vorhanden war, dann wurde lieber eine Lücke gelassen als ein bloßer
„Stilvertreter“ hineingestellt.
Aber noch mehr: auch auf die „historische Treue“ ist verzichtet worden.
Nicht wie die Epoche selbst war, sollte gezeigt werden, sondern was von
ihrer Kunst für uns heute lebendig und vorbildwert erscheint. Das be
stimmt schon die gegenständliche Auswahl. Hätten wir ein „objektives
Bild zeichnen wollen, dann hätte etwa die Zahl der Kruzifixe um ein
Vielfaches vermehrt werden, dann hätten die Darstellungen des Leidens,
der Marienklagen, der Beweinungen und Martyrien unendlich zahlreicher
sein müssen. Statt dessen haben wir unbekümmert um den naheliegenden
Vorwurf der Fälschung an Gegenständen und Themen das bevorzugt,
was auf der bejahenden Seite des Lebens liegt. Im Verhältnis zu groß ist
die Zahl der ritterlichen Gestalten oder der freundlichen Bilder des
Marienlebens und der Legende im Vergleich zu denen der Passion. Was
an Gewalt und Übergewalt des religiösen Empfindens in unserer alt
deutschen Kunst lebt, an Wildheit des Leidens und der Zerrissenheit, an
Glut der Jenseitssehnsucht, an Fanatismus der Verleugnung und Über
windung des irdischen Daseins, wollten wir nicht verbergen und haben
es dort gezeigt, wo es durch höchste Künstlerschaft verklärt, sich im
Grunde selber aufhebt. Vor allem aber kam es darauf an, das sichtbar,
lebendig und wieder wirksam zu machen, was in unserer alten Kunst an
Wesenszügen lebt, nach denen wir heute fragen. Das fest auf dem Boden
dieser unserer eigenen Erde stehende Daseinsgefühl, das wir mühsam
genug wiedergewonnen haben und mit allen Mitteln festhalten und
starken wollen, soll hier künstlerische Bestätigung und Hilfe finden. Des-