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Akira Kanayama, Bio
logischer Ballon, 1958
kürzlich bei Bataille beschrieben haben.^o Auch die Be
ziehung zur Arte Povera, die sich später in Italien ent
wickelt hat, ist eine Untersuchung wert.^i
Die Künstler wählten nicht nur konventionelle Materialien
wie Farbe oder Bronze, um ihre Aktionen durchzuführen
und deren Spuren zu bewahren, sondern auch aus
drucksstarke und schwer zu handhabende Stoffe wie
Lehm oder Holzklötze, Gips und Metall. Als Orte für ihre
Aktionen bevorzugten die Künstler große Räume (Büh
nen oder im Freien) oder riesige Bilder, die als Feld
bezeichnet werden können. Die Aktionen führten nicht
selten zu Verletzungen: Nach der Aufführung von Zer
reißen von Papier litt Murakami unter einer Gehirner
schütterung, und Shiragas Körper war nach seinem
Kampf mit dem Lehm mit blauen Flecken und Kratzern
übersät.
Shiraga war es, der die Bedeutung dieser Aktionen
schriftlich zum Ausdruck brachte. Etliche seiner Beiträge
in der Zeitschrift Gute! waren als Ergänzung zur im Gutai
Art Manifesto festgehaltenen Theorie des Materials
gedacht. So schrieb er z. B.: »Alle meine Gedanken ziel
ten darauf ab, Kunst, die ein Ausdruck des menschli
chen Geistes ist, auf Körperlichkeit zu reduzieren«22.
Diese Körperlichkeit nannte er »wesenhaft«: »Das
Wesenhafte, das ich meine, ist nicht fragil wie dasjenige,
das wir bisher mit »Eigenschaft« bezeichnet haben und
das zu keiner Weiterentwicklung fähig ist, sondern es ist
die Vereinigung von Geist und Körper, die sich erst durch
das Leben vollzieht und auf den Körper, mit dem wir
geboren wurden, gegründet ist.«23 Shiraga fährt fort, daß
er zur Schaffung seines Werks aus rotbemalten, mit einer
Axt bearbeiteten Holzklötzen (auf der Open-Air-Ausstel-
lung) durch den Gedanken inspiriert wurde, daß es ihn
vielleicht weiterbrächte, wenn er sich körperlich so ver
ausgabte, daß ihm schwindelte.^'t
Die Reduzierung von Ausdruck auf Körper und Material
war ein Konzept, das den radikalen Künstlern und Kriti
kern dieser Zeit bis zu einem gewissen Grad gemeinsam
war. So schrieb Yoshihara in seinem Manifest, daß
seiner Einschätzung nach sowohl Pollocks als auch
Georges Mathieus Bilder einen Kampf mit dem
Material ausfochten. Eine Erklärung von Jean Dubuf-
fet, die noch vor den Aktivitäten der Gutai-Gruppe
entstand, ähnelt dem Gutai Art Manifesto-, »Kunst
wird durch das Material und das Werkzeug hervorge
bracht. Sie muß die Spuren des Werkzeugs und den
Kampf mit dem Material hinter sich lassen. Der Mensch
muß sprechen. Doch auch das Werkzeug sollte spre
chen, und ebenso das Material.«^^ Und schließlich
schrieb Asger Jorn - eine der zentralen Persönlichkeiten
der COBRA-Gruppe und Vertreter einer einzigartigen
expressionistischen Bewegung in Skandinavien -, als
wollte er Shiraga antworten: »Man kann sich nicht rein
psychisch ausdrücken. Ausdruck ist ein körperlicher
Akt, der dem Gedanken materielle Form verleiht. Psychi
scher Automatismus ist daher eng mit körperlichem
Automatismus verknüpft.«^^
Jorns Worte deuten an, daß die Aktionen der Gutai-
Gruppe im Kontinuum der Geschichte als eine radikale
Form von Automatismus gesehen werden können. Die
Gutai-Künstler waren sich dessen durchaus bewußt. In
seinem Manifest beschäftigt sich Yoshihara auch mit
Shiragas und Shimamotos Action painting: »Als das
Wesenhafte des Individuums sich im Schmelztiegel des
Automatismus mit den gewählten Materialien vereinigte,
waren wir von der Gestalt des uns noch unbekannten
Raums, den nie jemand zuvor erblickt oder erfahren
hatte, überwältigt.« Das ist die Revolution des Raums
der bildenden Kunst, den die Innovation des Automatis
mus hervorgebracht hat, wobei Shiragas Auffassung
vom »Wesenhaften« des Individuums als Prämisse dient.
Auch die Surrealisten, die sich für die assoziative Qua
lität von Bildern interessierten, die sich Abzug- oder
Frottagetechniken verdankten, vertraten den Automatis
mus in der Kunst. Max Ernst schrieb über die Wirkung
der Frottage auf seine Psyche:
20 Für weitere Einzelheiten über das wachsende Interesse an
Batailles Ideen und ihrer Bedeutung für die Kunst siehe den fol
genden Ausstellungskatalog, der auch Shiragas Werke enthält:
Yves-Alain Bois und Rosalind Krauss, L’informe: mode d'emploi,
Paris, 1996.
21 Barbara Bertozzi. »On the Origin of the New Avant-Gardes:
The Japanese Association of Artists Gutai«, in: Gutai Japanese
Avant-Garde 1954-1965, Darmstadt 1991.
22 Kazuo Shiraga. »Shishitsu ni tsuite« (Über das »Wesenhafte«), in:
Gutai, 5,1. Oktober 1956, o. S.
23 Ibid.
24 Transkription meines Interviews mit Kazuo Shiraga (wie Anm. 6),
S. 380.
25 Jean Dubuffet, Prospectus aux Amateurs de Tout Genre, Paris
1946, S.56.
26 Asger Jorn, »Discours aux Pingouins«, COBRA 1, 1949, S. 8.