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Lucio Fontana, Concetto spaziale,
(Raumkonzept) C 49-50 B3, 1949-50.
Fondazione Lucio Fontana, Mailand
lang hegte ich ein großes interesse für Werke, die von
Künstiern in anderen Teiien der Weit geschaffen wurden - in
ailen Teilen, aber vor allem, um beim speziellen Thema dieses
Aufsatzes zu bleiben, in den Ländern des südlichen
Lateinamerika. Ist es möglich, in einem Text sowohl über
Europa als auch über Lateinamerika zu schreiben? Die
Bezüge zwischen diesen beiden Sphären haben mich immer
fasziniert: auf der einen Seite ihre gegenseitige Durch
dringung, die sich offen in den Reisen bestimmter Künstler
und Denker manifestierte, die in der einen oder anderen Weise
unterwegs waren; auf der anderen Seite all das, was sie von
einander trennt und unterscheidet. Das Bestreben, »der
Erfahrung treu zu bleiben'<, müßte zwischen dem unterschei
den, was im Geiste gelebt wird - Ideen, die zu einem be
stimmten Zeitpunkt in der Luft liegen - und dem, was im
Körper gelebt wird: das Alltagsleben in einzelnen Nationen,
Kulturen, politischen Systemen oder Stadtvierteln. Und doch
gibt es zwischen diesen beiden Dimensionen eine beständige
Wechselwirkung. Frances Yates verweist in Theatre of the
World, ihrer Studie über das elisabethanische Drama, auf die
Bedeutung des Namens von Shakespeares eigenem Theater
»The Globe« als Teil des großen Ideenwandels, der damals
stattfand: »Aus einer Renaissance-Gedankenwelt entstanden,
paßten die englischen öffentlichen Theater wie >The Globe<
diese der englischen Situation an und brachten eher die
Perspektive der Renaissance als jene des Mittelalters auf
Mensch und Universum zum Ausdruck.«’ Ich glaube, eine
ähnliche Kombination einer »Perspektive auf das Universum«
und einer lokalen Situation - eine Art Ineinanderfließen oder
Verschmelzen des Ätherisch/Spirituellen und irdisch/Körper-
lichen - lädt auch die vitalsten Phänomene der zeitgenös
sischen Kunst auf. Doch die Begriffe universal/lokal, Geist/
Körper sollten in einem vieldeutigen, nicht in einem singulären
oder absoluten Sinne verstanden werden. Jede Erfahrung ist
widersprüchlich (z. B. wird meine Nähe zum Werk bestimm
ter lateinamerikanischer Künstler durch meine Entfernung von
ihren alltäglichen Lebensbedingungen relativiert, während
meine alltägliche Vertrautheit mit bestimmten Aspekten
Londons wiederum durch meine Entfremdung von den natio
nalen Mythen der »britischen Kunst<‘ relativiert wird usw.).
Eine weltumspannende Idee, ein gemeinsames Symbol oder
eine grundlegende Metapher, die unabhängig voneinander an
den verschiedensten Orten in der Kunst der Sechziger auf
tauchte, war die durchlässige Membran. Als eine im ein
fachsten Sinne durchscheinende, elastische, relative Tren
nung zwischen Gegensätzen - z. B. zwischen Innen und
Außen - brachte sie perfekt den Freiheitsdrang der Sechziger
angesichts überkommener, erstarrter, dichotomer Strukturen
in Kunst und Leben zum Ausdruck. Sie war ein Symbol für ein
neues Verhältnis zu Natur, Körper und Psyche und tauchte
in vielerlei Gestalt auf.
So verwandelten Lucio Fontanas Schnitte und Durchboh
rungen die Leinwand in eine Membran, und Gordon Matta-
Clarks Einschnitte in Gebäude machten diese zu mem
branähnlichen Strukturen. In einer - ob bewußten oder
unbewußten, ist nebensächlich - Weiterführung von Lucio
Fontanas Gestus projizierte Lea Lublin in Santiago de Chile
die Bilder berühmter Gemälde auf durchscheinende und zer
schnittene Leinwände, durch die die Leute hindurchgehen
konnten (1971). Christos Oceanfront (1974) bestand aus einer
riesigen Polyäthylen-Leinwand, die, zur Flälfte ins Wasser
getaucht und zur Flälfte auf Felsen und Sand ruhend, an den
Übergängen zwischen Meer und Land lag; sie wurde an den
Rändern von einer gewaltigen Ansammlung von Menschen
gehalten, die wie Fischer an einem gewaltigen Netz zogen.”
Ähnlich, doch sechs Jahre früher und wahrscheinlich Christo
nicht bekannt, forderte Lygia Pape in Brasilien Menschen
dazu auf, ihre Köpfe durch ein riesiges, gemeinsames
Leintuch zu stecken {Teiler, 1968). In Lygia Clarks sensorischer
Bekleidung, für die sie luftgefüllte Säcke, Polyäthylen-Tücher,
Steingewichte und elastische Bänder verwendete, und in
Flelio Oiticicas Parangole Umhängen und netzartigen, durch
lässigen Strukturen wird die Membran sowohl zu einem Mittel
der Betonung wie auch der Überschreitung der Grenze zwi
schen dem Inneren und dem Äußeren des Körpers, zwischen
dem eigenen Ich und dem anderen Menschen, zwischen indi
viduellem und kollektivem Lebensraum (so ist es hoch
interessant, Christos Oceanfront mit Lygia Clarks Luft cS Stein
(Ar e Pedra, 1966) zu vergleichen, wobei die eine Arbeit am
Land-Art-Maßstab ausgeführt wurde, und die andere ein klei
ner, luftgefüllter Sack ist, der mit einem Kiesel beschwert und
zwischen den Fländen zusammengepreßt wird).
Solche Ideen, die weltumspannend ohne Kontrolle oder
Einschränkung auftauchen, treffen auf die Zwänge und
Möglichkeiten jedes einzelnen Milieus. Die Kunst, über die ich
schreiben möchte, geht hier aus zwei Arten urbaner Erfahrung
hen/or; derjenigen Europas, besonders Londons, und der
jenigen der lateinamerikanischen Städte, vor allem von Rio de
1 Frances Yates, Theatre ofthe World, London - New York 1987,
S. XII.
2 Zu diesem Werk gibt es das ausgezeichnete Buch Oceanfront.
Text von Sally Yard, Photographien von Gianfranco Gorgoni,
Princeton 1975.