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Yves Klein, Anthropometries et Symphonie monotone
(Anthropometrien und Monotone Symphonie), Ausstellung in der Galerie
internationale d’art contemporain, rue Saint-Honore, Paris (9. März 1960)
Janeiro, Buenos Aires und Santiago de Chile. Zu Beginn
möchte ich direkt auf die grundlegenden Unterscheidungs
merkmale dieser beiden Wirklichkeiten zurückgreifen: Städte
der Alten Welt im Vergleich zu denen der Neuen; Städte mit
einer postkolonialen, wirtschaftlichen Abhängigkeit im Unter
schied zu den Metropolen eines Weltreichs und des globalen
Kapitalismus; geteilte Städte, in denen Arm und Reich polari
siert sind, im Vergleich zu einem sozialdemokratischen
Konsens und Konsumismus. Solche Abgründe bleiben be
stehen, doch ein komplexeres Bild entfaltet sich, wenn wir
aufhören, die beiden Wirklichkeiten als monolithisch und
undurchdringlich zu betrachten. Einsprengsel der Ersten Welt
finden sich auch in der Dritten und umgekehrt. Beide sind
einer beschleunigten Vermischung der Kulturen im späten 20.
Jahrhundert unterworfen, beide sind durchsetzt von kom
plizierten Paradoxien und Widersprüchen. In den latein
amerikanischen Städten zum Beispiel, die auf eine Weise
sozial gespalten sind, wie man es in Europa seit dem 19.
Jahrhundert nicht mehr kennt, scheinen einzig die Reichen im
Besitz von Kultur zu sein und den Rest zu einem Elend zu ver
dammen, aus dem aber in Wahrheit jene Bestrebungen und
Improvisationen hen/orgehen, die die offizielle Kultur als hoh
len Schwindel entlarven. Umgekehrt ist eine Stadt wie
London, mit all ihren alten Schichten und traditionellen
Bräuchen, die Bühne für eine moderne Revolution, die sie
wahrscheinlich in die größte Metropole der Weit verwandeln
und alle national beschränkten Modelle englischer Kultur als
einen weiteren hohlen Schwindel entlarven wird. Gerade auf
dem Gebiet der Neuerungen und Veränderungen sowie der
Notwendigkeit, diese Entwicklungen eher zu begreifen und
die darin enthaltenen Möglichkeiten zum Wandel zu erkennen,
als sie in den alten, konzeptuellen Rahmen aus Vorurteilen
und Ungerechtigkeit hineinzupressen, haben viele Künstler
ihre Schlachten ausgefochten.
Trotz ihrer sozialen Extreme präsentieren sich lateinamerika
nische Städte in anderer Hinsicht als homogen. Die meisten
Menschen sind Insider. London hingegen wurde zunehmend
heterogener. Hier herrschte immer ein Durcheinander, alles
wächst drunter und drüber und klebt aufeinander, und die aus
Paris und Rom bekannte Art von Generalstabsplänen verläuft
sich nach ein paar Straßen in einem Labyrinth aus Seiten
wegen und Nebenverordnungen. Heute haben die Kako-
phonie der Stimmen und die Vielfältigkeit kultureller Phäno
mene, die in der Stadt koexistieren, ein ungeheures Ausmaß
angenommen, und das Bedauern über den Unwillen der Insti
tutionen - einschließlich der Kunstinstitutionen - zur Wahr
nehmung dieser Realität vermischt sich mit der Erleichterung
über ihre Unfähigkeit, sie zu kontrollieren oder einzupassen.
Die meisten Kunstinstitutionen arbeiten immer noch mit über
holten nationalen Prioritäten und ineffektiven Vorstellungen
von dem, was einen »britischen« Künstler ausmacht, statt die
flexiblere Bezeichnung des in »Großbritannien lebenden«
Künstlers zu wählen. So präsentierte eine kürzlich stattfin
dende Gruppenausstellung zur Londoner Kunstszene der
sechziger Jahre diese als ein fast ausschließlich britisches,
weißes Phänomen, obwohl die Vitalität dieser Periode sich mit
Sicherheit ihrem kosmopolitischen, multikulturellen Charakter
verdankte.® London war ein Magnet und versprach eine Art
von Freiheit. Wenige Nachforschungen würden genügen, um
die Gegenwart vieler junger Künstler aus verschiedenen Teilen
der Welt aufzuzeigen, die vor einer vorgezeichneten Karriere,
geordneten Familienverhältnissen und Tagesabläufen nach
London geflohen sind. Die Stadt wurde zu einem Gebiet
gegenseitiger Tests, auf dem verschiedene, ererbte Formen
relativer Verschlossenheit oder Freiheit sich aneinander rieben
und miteinander verschmolzen, um etwas Neues entstehen
zu lassen. Meiner Meinung nach waren solche Begegnungen
Synonyme für die Vitalität in Großbritannien. Wenn sie zu Ende
gehen, gewinnt das Establishment die Überhand, das »Live-
Element« erstarrt und die Künstler kehren zum konservativen,
monumentalen Formalismus zurück, den sie ursprünglich
bekämpfen wollten. Auf keinen Fall ist jedoch eine Liebe zum
Experiment unvereinbar mit einer Sensibilität für die alten
Schichten Londons.
Wenn man diese zwei verschiedenen Kontexte erwähnt, so
müssen sofort Künstler genannt werden, die sich in sie hinein,
aus ihnen heraus und zwischen ihnen bewegt haben. Das
Muster war komplexer als die einfache Bewegung von der
Peripherie zum Zentrum, auch wenn dies vielleicht die domi
nante Kraft war. Da gab es die Argentinier Lucio Fontana,
dessen äußerst einflußreiches White Manifeste während eines
siebenjährigen Aufenthalts in Buenos Aires im Zuge eines
hauptsächlich in Italien zugebrachten Lebens geschrieben
wurde, und Alberto Greco, der einige Phasen seines Lebens
in Paris und insbesondere in Spanien verbrachte; Lea Lublin,
die 1964 ihren ständigen Wohnsitz nach Paris verlegte; und
Leopolde Maler, der einen Großteil der sechziger und siebzi
ger Jahre in London verbrachte und heute in der Domini-
3 David Mellor, The Sixties Art Scene in London. London 1993.