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des Körpers herausgefordert wurde. Nelly Richard sprach von
der »Unnachgiebigkeit des Militärs, für das der Körper der erste
disziplinierende Rahmen der normativen identität ist«“', die
durch Training und Folter befestigt wird. In direktem Kontrast
dazu stellte Leppe - nicht mit großartigem Pomp, sondern mit
Zeichen der Verwundbarkeit und des Kampfes - den Transve-
stiten-Körper aus, durch den die strenge Festlegung der
Geschlechterrollen parodiert wird. Im Chile dieser Zeit besaß
die Zurschaustellung des Körpers eine besondere Intensität,
da - wie Nelly Richard feststellte - unter dem allgegenwärtigen
System der Zensur, das auf jede sprachliche Äußerung ange
wandt wurde, »jeder zusätzliche Diskurs oder unausge
sprochene Druck, der die Syntax des Erlaubten unterminierte,
nur als Körpergeste zum Vorschein kommen konnte«.““
Das Wechselspiel zwischen der Darstellung seiner selbst
als Künstler (Selbst-Porträt) und der Selbstdarsteilung als
Durchschnittsmensch, der Anteil an den »sozialen Konflikten
(hat), die den Einzelnen der Gesellschaft angleichen«““, ist kein
neues Thema in der Kunst. Dennoch verlieh die Performance-
Kunst dem Prozeß eine neue Nuance, indem sie die Künstler
aus ihrem gewohnten Diskurs (Malerei, Skulptur usw.) in einen
neuen übersetzte, in dem sie nackt und ungeformt waren, zur
Schau gestellt und in direktem Kontakt mit dem Publikum.
Daraus entstanden sofort Spannungen zwischem dem
»Man-selbst-Sein« und dem »Eine-Rolle-Spielen«, zwischen
materieller Wirklichkeit und Symbol oder Metapher. Rück
blickend scheint dieser Wandel zwei große Sehnsüchte
widerzuspiegeln: die Sehnsucht des Künstlers, die Lebendig-
37 Nelly Richard, »A Matter of Style«, in: Adam's Apple Chile -
Transvestites, Paddington NSW, 1989.
keit der Kommunikation vor einem Kunstsystem zu schützen,
das sich zunehmend am Warenwert berauscht, und die Sehn
sucht des »Durchschnittsmenschen«, sich selbst durch ge
lebte Erfahrungen, durch die eigene Geschichte, Identität und
Subjektivität kennenzulernen. Es ist, als ob der Künstler diese
zweifache Sehnsucht in einer embryonalen und testamenta
rischen Form darstellt, indem er dem Publikum gegenübertritt,
als wäre es die ganze Welt.
Die Konzentration auf die Individualität und Subjektivität des
Künstlers legt scheinbar einen unentrinnbaren Alleingang
nahe, doch bestand das fruchtbare Paradox eben genau
darin, daß der Auftritt des bildenden Künstlers in der Rolle
eines »Schauspielers« gleichzeitig eine Dekonstruktion und
eine Ausweitung des Begriffs »Protagonist' darstellte. Die
Welle der Performance-Kunst, die Großbritannien in den
späteren Siebzigern überschwemmte, förderte eine faszi
nierende Vielzahl an Protagonisten zutage. Während die
Darsteller einerseits »nackt« vor dem Publikum standen, re
präsentierten sie in einem anderen Sinne das gesamte
komplexe Amalgam, die »Unendlichkeit der Spuren«
(Gramsci), aus denen Identität entsteht. Deshalb gab es keine
Unterbrechung, sondern eine Kontinuität der Solos, Duos,
Ensembles und einer Vielzahl an Repräsentanten, unter ande
rem abwesende und Ersatz-Darsteller, Doubles, Alter Egos,
Verkleidungen und leblose Objekte, die manchmal lebendiger
wirkten als die lebenden Darsteller.
In einem sehr impressionistischen Überblick über dieses
weite Gebiet, dessen Spuren immer noch verstreut und oft
38 Nelly Richard, »Margins and Institutions«, ibid., S. 72.
39 Fernando Balcells, »Analysis«, ibid.