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Raphael Montanez Ortiz, Piano Destruction Concert
(Klavierzerstörungskonzert), 1966.
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
rigende und selbstzerstörerische Bilderwelt, die häufig in
Frauenaktionen vorkommt, veranschaulichen. Gewagte,
exzessive Ausdrucksformen von Wut, aber auch Dar
stellungen, in denen man sich selbst zum Opfer macht, sich
selbst erneut als Opfer definiert oder andere opfert, sind stän
dige Visualisierungen von Tropen der Pein und des Leids, wie
auch Wimmern, Schluchzen und ähnliche Schmerzenslaute
oder irrationale Ausbrüche in unberechenbares Gelächter und
so weiter.^ So erklärte McCarthy beispielsweise, er könne
»sich eine Stunde lang im Kreis drehen, und dann würde
etwas geschehen«. Durch Wiederholung erzeugt die Aktion
einen Impuls, der es dem Künstler ermöglicht, einen bestimm
ten Bewußtseinszustand zu erreichen, der der inneren
Erfahrung zu körperlichem Ausdruck verhütt, selbst wenn sie
der Sprache beraubt ist.
Ein Trauma kann genausogut durch Gewalt ausgedrückt wer
den, wie in McCarthys Whippinga Wall with Pa/nf (1974), einer
Aktion, in der der Künstler eine innere Kraft (Wut? eine noch
unartikulierte Macht? Leid? Schmerz?) gegen eine riesige
Schaufensterscheibe und quer durch den Raum auf die
Wände, Säulen und den Boden entlud, auf die er allesamt mit
einem farbgetränkten Laken einschlug (einpeitschte?) und
dabei 30 bis 40 Minuten lang die Farbe gegen das Fenster
klatschte. Dieser Akt ist mit einem explosiven Potential auf
geladen, mit einer Gewalt, die unendlich beängstigender ist
als McCarthys Metaphern für Körperflüssigkeiten, die er aus
so viszeralen und kitschigen Materialien wie Ketchup und
Mayonnaise herstellt. Dennoch verfügen auch diese Materia
lien über dissoziative Qualitäten, da McCarthy Würzmittel ver
wendet, die einen entfernten Bezug zu den »richtigen«
Nahrungsmitteln haben, die sie aufwerten sollen, und deren
Abwesenheit sie symbolisch vertreten. Die Konstruktion von
Gewalt in McCarthys Arbeit erweckt in der Erinnerung das
Gespenst einer tatsächlichen Erfahrung zu neuem Leben -
einer Erfahrung, die sich der Sprache nicht erschließt, in kraft
vollen, beunruhigenden und bewegenden Aktionen jedoch
präsent ist; bewegend waren die Aktionen deswegen ge
wesen, weil sie von abgrundtiefer Verkommenheit handeln.=^^
Die Aktionen von McCarthy und Duncan erinnern an die
Wiener Aktionisten - Günter Brus, Otto Mühl, Fiermann Nitsch
und Rudolf Schwarzkogler. Einer der weniger bekannten
Meilensteine der Aktionskunst jedoch, der McCarthy und
Duncan ebenfalls verpflichtet sind, ist die Performance Self-
Destnjciion (1966), die Raphael Montanez Ortiz im Londoner
Mercury Theater aufgeführt hat. Vor der Aktion brachte Ortiz
an dem Anzug, den er trug - dem typischen Anzug eines
Mittelklasse-Geschäftsmanns - so gezielt Schnitte an, daß er
ihn sich mit Leichtigkeit vom Leib reißen konnte. Dann betrat
er den Raum, der bereits mit Milchflaschen, einer großen
Spielzeugente aus Gummi, einer Windel und einer großen
Dose Babypuder ausgestattet war. Während er von hinten auf
die Bühne kam, rief Ortiz leise: »Mutter, Mutter, ich bin zu
Elause; Ralphie ist hier; dein Sohn ist hier.« Als seine Mutter
nicht erschien, begann der Künstler immer wütender nach ihr
zu rufen, bis er schließlich schrie. Schließlich erklärte Ortiz
seinen Auftritt:
Ich habe mich hingesetzt und die Milch gesoffen, und ich
kann kaum mehr atmen. Ich greife mir noch eine Flasche.
Ich saufe sie aus und kleckere mich ganz voll: da ist
Mammis Präsenz, genau dort in all der Milch. Ich wende
wieder richtig hysterisch und muß kotzen. Ich erbreche
Mammi. Ich kotze, erst spontan, dann absichtlich, indem
ich mir den Finger in den Elals stecke und etwa einen
Liter Milch erbreche. Dann schlage ich wütend in die
Rütze mit dem Erbrochenem und rufe dabei immer wie
der, »Mammi, Mammi«. Schließlich akzeptiere ich die
Milchpfütze als Symbol für Mammi und beruhige mich.
Ich krabbele davon. »Mammi, ma, ma.,.«^®
Vier Jahre nach Ortiz’ Londoner Selbstzerstörungsaktion ver
öffentlichte Arthur Janov, Psychologe und Sozialarbeiter in der
34 Siehe zum Beispiel Robert Jay Litton, »From Hiroshima to the
Nazi Doctors: The Evolution of Psychoformative Approaches to
Understanding Traumatic Stress Syndromes«, in: International
Handbook of Traumatic Stress Syndromes, hrsg. von John P.
Wilson und Beverley Raphael, New York - London 1993, S.
11-13. Wiederholungen wie das zwanghafte Schreiben von
Zahlen oder Buchstaben - wie beispielsweise im Fall der deut
schen Conceptual art-Künstlerin Hanne Darboven - sind
ebenfalls Zeichen eines Traumas.
35 Kristine Stiles im Gespräch mit Paul McCarthy, in: Paul McCarthy,
London 1996, S. 6-29.
36 Ortiz' Zitate sind, sofern nicht anders angegeben, Gesprächen
der Autorin mit dem Künstler seit 1982 entnommen. Siehe auch
mein Buch Rafael Montanez Ortiz: Years of the Warrior 1960,
Years ofthe Psyche 1988, New York 1988.