247
Eine Geschichte, die Anderson über Duets on Ice erzählte,
vermittelt Ihre feine Sensibilität für die Art und Weise, wie
nuanciertes Reden Durchschnittliches abrupt wie Unheim
liches Umschlagen läßt und somit plötzlich Normativität zu
durchbrechen vermag. Während der Aufführung des Stücks
in Genua erzählte Anderson In ihrem, wie sie es nennt,
»gestammelten Italienisch« Ihre Geschichte den Leuten, die
ihr auf der Straße zusahen. »Ich spiele diese Lieder«, erklärte
sie Ihnen, »im Gedenken an meine Großmutter, weil ich, an
dem Tag, als sie starb, auf einen zugefrorenen See hinausging
und dort jede Menge Enten sah, deren Füße in der neuen
Eisschicht eingefroren waren.«* Nachdem die Künstlerin die
ses ergreifende, aber eigentlich banale Bild (den Tod ihrer
Großmutter mit dem Tod der Natur [Winter] und festgefrore
nen Enten zu vergleichen) offeriert hatte, rettete sie ihre eigene
abgedroschene Geschichte, indem sie sie ausarbeitete: »Ein
(italienischer) Mann, der meine Geschichte gehört hatte,
erklärte den Neuankömmlingen, >Sle spielt diese Lieder,
weil sie einst zusammen mit ihrer Großmutter in einem See
eingefroren ist<.«
Diese Modifizierung der Originalgeschichte schwächt letztere
nicht nur, sondern steigert sie gleichzeitig; zusammen im See
eingefroren - jetzt kann man verstehen, wie Teile von Ander
son, ähnlich der im Eis eingefrorenen Entenfüße aus der
früheren Version der Geschichte, zusammen mit ihrer Groß
mutter gestorben sind. Mit den Füßen im zugefrorenen See
stehend, ist Anderson die eingefrorene Ente, und das Duett
wird zu einem Klage- und Trauerlied für die Großmutter. Die
ganze Szene ist jedoch so absurd wie eine Traumszene: eine
junge Frau, die aussieht wie ein Mädchen, spielt Cowboy-
Lieder auf einer selbstspielenden Geige, an den Füßen ein
Paar Schfittschuhe, die in schmelzenden Eisblöcken veran
kert sind, in einer Stadt weit weg vom Schauplatz ihrer
Geschichte, und erzählt ihrem Publikum von der formalen
Ähnlichkeit zwischen Geigespielen und Schlittschuhlaufen, in
einer Sprache, die ihr fremd ist und die ihre Zuhörer kaum ver
stehen. Genau diese Art der Verschmelzung des Real-
Absurden brauchte man im Anschluß an die siebziger Jahre,
in der Zeit, als sich der Kalte Krieg zum letzten Mal unter
Ronald Reagan erhitzte.
Genau zu der Zeit, als J. L. Austins How To Do Things with
Words (1962) von der Harvard University Press 1975 neuauf
gelegt wurde, gewann der Begriff »Performance art« die
46 Ibid., S. 44.
47 J. L. Austin, How to Do Things with Words, Cambridge 1962.
Oberhand - als Sprechakt.* Austin unterschied zwischen
»konstativen« Äußerungen (Dinge beschreibenden) und »per-
formativen« Äußerungen (Äußerungen, die etwas tun) - mit
anderen Worten, Äußerungen, die handeini Es war jene Zeit
zu Änfang der achtziger Jahre, als sich die im aufstrebenden
Feld der »cultural studies« tätigen Forscher, die dem Struktu
ralismus über die Semiotik in den Poststrukturalismus gefolgt
waren (von den fünfziger bis in die siebziger Jahre) und die
nachhaltig durch die französische Kulturtheorie (Foucault,
Barthes, Lyotard, de Certeau, Baudrillard, Bourdieu und
Derrida) beeinflußt waren, plötzlich für Performance-Kunst zu
interessieren begannen.
IV. Übernahmen und Auslassungen
Daß »Aktion« zu einer Modalität ästhetischer Produktion
wurde, erscheint rückblickend eine angemessene Antwort auf
die Zeit zwischen 1949 und 1979. Die Idee der Aktion lebte
auch Ende der siebziger Jahre weiter, und mit dem
Aufkommen der »Performativität« wurde »der Gestus« selbst
zur Trope, wie Brian O’Doherty in seinem vielgerühmten
Aufsatz »The Gallery as a Gesture« aus dem Jahr 1981 for
muliert, in dem er sich den Ausstellungsraum als verkörperten
Schauplatz vorstellt:
Das implizite Wesen der Galerie kann durch Gesten, die
den Galerieraum als Ganzes nutzen, zur Stellungnahme
gezwungen werden. Dieses Wesen führt In zwei Richtun
gen. Es verhält sich zu der »Kunst« im Raum, der es einen
Kontext gibt. Und es verhält sich zu dem weiteren Kontext
- Straße, Stadt, Geld, Arbeit -, deren Bestandteil es ist.*
Ein Vergleich zwischen O’Dohertys Beschreibung des Galerie
raums und Kaprows Ausführungen von 1958 über die Ent
wicklung vom Action painting zum Flappening - die also
ganze 23 Jahre früher verfaßt wurden - zeigt uns, wie weit die
Theorie der Flappenings, Aktionen, Body art und Performance
Anfang der achtziger Jahre in den allgemeinen kulturellen
Diskurs und die Kulturinstitutionen vorgedrungen war:
Es geschah folgendes: Die Papierfetzen rollten sich von
der Leinwand herunter, lösten sich von der Oberfläche, um
eine eigenständige Existenz zu führen, entwickelten sich
zu anderen, festeren Materialien, reckten sich weiter in den
Raum hinein, um ihn schließlich ganz zu füllen. Da gab es
plötzlich Dschungel, belebte Straßen, mit Abfall übersäte
Gassen, Sci-Fi-Traumwelten, Räume des Wahnsinns und
48 Brian O’Doherty, »The Gallery as a Gesture«, in: Artforum, 20, 4,
Dezember 1981, S.27.