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Robert Rauschenberg, schießt mit seinem 22er-Gewehr auf
tirs (Schießbiider), in der Nähe von Stockhoim, 23. Mai 1961
Niki de Saint Phalie mit einem 22er-Gewehr
bei der Hersteilung eines tirs, Impasse Ronsin,
Paris 15. Juni 1961
und der Vorstellung Humes, daß das Ich in erster Linie durch
Bedürfnisse motiviert ist, die die Rationalität - als untergeord
netes Vermögen - zu erfüllen versucht
Die Künstlerin, die am konsequentesten an der Idee festhielt,
eine Person zu erfinden und beständig weiterzuentwickeln,
war Linda Montano. Nach eigener Aussage tauchte ihre
Kunstfigur zum ersten Mal in >'The Chicken Show« auf, einem
Happening im M.F.A. (20, Mai 1969), bei dem sie auf dem
Dach der Kunstabteilung und in der gesamten Innenstadt von
Madison, Wisconsin, Hühner ausstellte. Nach dieser Aktion
erschuf sie sich selbst als Chicken Woman (1970). Ihre erste
Performance Lying: Dead Chicken, Live Angel von 1971 stei
gerte sich nach und nach zu zahlreichen Personifizierungen
ihrer selbst als komplexes Wesen: Home Nurse (1973), Beil-
Ringer forthe Salvation Army {Dezember ^974), Tatking about
Sex while Under Hypnosis (1975) (hier verkörperte sie ihre
Schwester), The ScreamingNun (1975), Guru (22. März 1975)
und Dr. Jane Gooding and Sister Rose Augustine (1975).
(Hierzu muß gesagt werden, daß die vielen Nonnenfiguren
Montanos eine Art ästhetische Reinkarnation ihres früheren
Lebens als Nonne waren. 1960, mit 18 Jahren, war sie der
Maryknoll Sisters Missionsstation beigetreten, die sie nur zwei
Jahre später mit 37 Kilo Körpergewicht und diagnostizierter
Magersucht wieder verließ.) Als eine weitere Form zur
Schaffung komplexer Kunstfiguren ließ sich die Künstlerin an
männliche Künstler fesseln: an Tom Marioni in Handcuff: Linda
Montano and Tom Marioni (1973) - eine drei Tage lang dau
ernde Aktion, bei der die beiden Künstler mit Handschellen
81 Ken Johnson (wie Anm. 79), S. 156-57.
82 Die ‘Ursprünge’ von "Roberts Breitmore« sind schwer festzuma
chen. In einem Artikel von 1977 nennt Hershman das Jahr 1975 als
Beginn dieser Performances; siehe Lynn Hershman, »Lynn
Hershman«, in: Data, 27, 4, Juli-September 1977.1992 datiert sie
Roberta auf die Zeit zwischen «1971-78«: siehe Lynn Hershman,
«Simulations and Performances: Roberta Breitmore«, in: Lynn
Hershman, Montbeliard und Beifort, Frankreich 1992, S. 64.1995
jedoch erklärte sie, daß ihre Installation The Dante Hotel das Werk
war, das »zu einem zehnjährigen Projekt mit dem Titel »Roberta
Breitmore- führte«; siehe Lynn Hershman Leeson, »Refleotions and
Preliminary Notes«, in: Paranoid Mirror, Seattle 1995, S. 13. Ich selbst
aneinandergekettet waren; an Tehching Hsieh in One Year
Art/Life Performance, eine einjährige Aktion, bei der die
Künstler von 1983 bis 1984 mit einem 2,50 Meter langen Seil
aneinander gebunden waren.
Ähnlich wie Montano hat auch Lynn Hershman die Darstel
lung gespaltener Subjektivität mittels Multiples bis heute
fortgeführt. »Roberta« gab ihr Debüt in einer Suchanzeige
nach einer Mitbewohnerin, die Hershman in einer San
Franciscoer Zeitung aufgab. Als die ersten Antworten kamen,
baute die Künstlerin ihre künstlich erzeugte Realität aus, um
weitermachen zu können.®^ »Roberta« besaß einen Führer
schein, ein Girokonto und eine Kreditkarte. Sie ging zu den
Weight Watchers, machte eine Psychotherapie, hatte ihre
eigene Art zu sprechen, ihre eigene Handschrift, eine Woh
nung, Kleidung, typische Gesten und Stimmungen. Die
Öffentlichkeit, ihre Freunde und andere Künstler wußten
natürlich, daß »Roberta« niemand anders als Hershman selbst
war, auch wenn sie es abstritt und darauf beharrte, daß
Roberta »eine eigenständige Person« sei mit individuellen,
klar definierten Bedürfnissen, Ambitionen und Instinkten.
»Roberta« war Hershmans »>Schattenseite...ein dunkler, sche
menhafter Kadaver, den wir in jämmerlicher Selbsttäuschung
zu tarnen suchen«.“ »Roberta« war eine materielle Mani
festation der psychologischen Schnittstelle zwischen einer
ganzen und einer fragmentierten Psyche. Realität und
Fiktion zugleich, personifizierte sie den Raum des Übergangs
zwischen dem Zustand von Sein-Wissen und Dissoziation:
ein Raum, in dem die Kunst herrscht, und wo Visualität
habe in der Zeit, in der Roberta Breitmore aktiv war, gelebt und
Erfahrungen gesammelt; und ich war nicht nur das erste »Roberta«-
Multipie, sondern ich war auch bei «Robertas« Exorzismus 1978
dabei. In ihrem Aufsatz von 1995 schreibt Hershman, daß die Anfänge
von Roberta «privater Natur« waren. Und es ist tatsächlich sehr wahr
scheinlich, daß »Roberta Breitmore« als private Erfahrung begann.
Aus diesem Grund existierte »Roberta« als öffentliche Performance
eigentlich von 1975 bis 1978. Obwohl das Rätsel knifflig bleibt.
83 Lynn Hershman Leeson, »Reflections and Preliminary Notes«, in:
Paranoid Mirror, S. 13. Eine interessante Beobachtung ist, daß
Hershman dadurch, daß sie gelegentlich den Namen ihres Ehemanns
benutzt, weiterhin multipel auftritt.