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empfinden, wenn sie diese gemeine Parodie erblicken -
ganz besonders die rechtschaffenen Männer, die Ende der
vierziger Jahre von hier und von der Westküste [Amerikas]
nach Paris gingen, um ihr Werk diesem parasitären und
grotesken Tramp vorzuführen. Nicht mir mir, Art News.
Still war berühmt für sein streitlustiges, bissiges und nahezu
bitteres Temperament, und dieser Brief war typisch für sein
Verhalten. Das Photo von Mathieu in Art News (das den ele
ganten französischen Aristokraten zeigt, wie er in einer
seidenen Smokingjacke neben seinem berühmten und gewal
tigen Gemälde Bataille de Bouvines am Schreibtisch lehnt)
war gewiß alles andere als das mythische Abbild des angst
erfüllten, whiskeytrinkenden, verstörten amerikanischen
Cowboy, der zum heroischen Künstler geworden war.
In den späten fünfziger Jahren veröffentlichte Time mehrere
Artikel über Mathieu, in denen der Künstler einerseits gefeiert
und andererseits verunglimpft wurde. Hier einige Beispiele:
“Er fährt einen Rolls-Royce«, »hat Salvador Dalis Kunststück
gelernt, den bemützten und blasierten Aristokraten zu spie
len«, »ist wohl imstande, ausgedehnte Ausflüge durch die
schönsten Landschaften zu machen, ohne irgend etwas zu
sehen.«''™ Der letzte Kommentar ist ein direktes Zitat aus
Michel Tapies 1953 erschienenem Artikel »Mathieu Paints a
Picture« und natürlich völlig aus dem Zusammenhang geris
sen. Tapie hatte versucht, Mathieus gewaltige Konzentration
und seine gründliche Recherchearbeit vor der Entstehung
eines Bilds darzustellen! Time jedoch behauptete weiterhin,
Mathieu »malt wie er fährt - zum Sehen und Gesehen wer
den«, und gelangte zu dem beleidigenden Schluß, daß es ihm
in seinem Werk ebenso um »Zweideutigkeit« wie um
»Wirkung« gehe. (7. März 1955).
Schlimmer noch als sein privater Reichtum war in den Köpfen
der Amerikaner (die es gewöhnt waren, im Abstrakten
Expressionismus einen persönlichen Existenzkampf zu
sehen, an dessen Ende ein erhabenes Bild steht) die
Tatsache, daß Mathieu angeblich »in nur zehn Minuten kleine
Gemälde aus dem Hut zauberte, und selbst an seinen
großformatigen Bildern nicht länger als ein paar Stunden
malte« (5. April 1954). Als wäre ein Vergleich seiner Farben mit
Zahncreme und Teer nicht schon kränkend genug, bezeich-
nete ihn Time auch noch als kurzlebige »Kunstmode«.
In anderen Ländern hingegen wurde Mathieu ganz anders
150 Die Vorstellung, tVlathieu könne umherfahren, ohne »irgend
etwas zu sehen«, basiert auf dem Artikel über Mathieu von
Michel Tapie, »Mathieu Paints a Picture«, in: Art News, 53, 10,
Februar 1953, S. 50, 51, 74-75.
rezipiert. Als er im August 1957 mit Tapie nach Japan reiste,
wurden die beiden von der Gutai-Gruppe herzlich als Kollegen
auf dem Weg in eine neue ästhetische Richtung aufgenom
men. Allein in Tokio bemalte Mathieu vor begeisterten
Zuschauermengen in drei Tagen 21 Leinwände, einschließlich
eines fast 14 Meter langen Freskos.'®' Time berichtete aus
führlich über die Reise und druckte eine lange, lebendige
Beschreibung seiner Aktion, die etwas von der Atmosphäre,
die damals herrschte, vermittelt:
Sichtlich zitternd vor Nervosität und Vorfreude, lief Mathieu
barfuß [im Kimono] neben einer riesigen, 8x2 Meter großen
Leinwand auf und ab, die auf dem Werkstattboden ausge
breitet war; er glühte förmlich, als seine Assistenten Kisten
mit Farbtuben, eine große, mit Terpentin gefüllte Sake-
Flasche, Bündel mit Pinseln und ein Dutzend Mischschalen
aus Messing auslegten. Plötzlich, mit einer explosionsarti
gen Bewegung, machte sich Mathieu an die Arbeit.
Nachdem er Pappkartons mit den Zähnen zerrissen hatte,
um Zeit zu gewinnen, begann er violette Kleckse und
Kringel direkt aus der Tube auf die Leinwand zu drücken
und spritzte dann ganze Tuben mit schwarzen Pigmenten
hinterher. Er ergriff vier Tuben mit einer Hand und leerte sie
in einer einzigen gewaltigen Salve, schnappte sich
anschließend die Sake-Flasche mit Terpentin und ergoß sie
über die Leinwand. Dann fiel er auf die Knie, begann wild
mit einem Handtuch die Oberfläche abzutupfen und warf
sich schließlich der Länge nach selbst auf die Leinwand.
Nachdem diese nun gut grundiert war, legte Mathieu erst
einmal eine Pause ein, um ein schäumendes Glas japani
sches Bier zu kippen, während Assistenten das Werk
gegen die Staffelei aufstellten. Dann, mit einem Blick wie
ein Seeräuber vor dem Entern, trat er die Trümmer aus
Pinseln, Tuben und Flaschen beiseite, klatschte einen
Pinseln in eine Schale mit weißer Farbe, packte einen wei
teren Pinsel mit den Zähnen und rauschte auf die Leinwand
zu. Auf einer Seite erschien ein weißes Kreuz mit roten
Konturen, auf der anderen ein gelber Schnörkel. Dann
kehrte er zurück zu seinem Bier und trank wieder. Er
bewaffnete sich mit einem 1,5-Meter-Pinsel wie mit einer
Lanze und zog damit breite, pinkfarbene Linien längs über
die 8-Meter-Leinwand. Von da an wütete die Schlacht mit
solchem Zorn, daß Mathieu in Farbe, Terpentin und
151 SieheJirö Yoshihara, »On The International Art ofA New Era',
dedicated to 'Osaka International Festival'«, in: Gutai, 9,1958,
S. 7.