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Gideon Gechtman, Shaved Nude (Rasierter Akt), 1974. Sammlung des Künstlers
-findet. Denn der Künstler begriff seine Arbeit zu keiner Zeit
als irgendeiner der Kategorien zugehörig, die im nachhinein
der breiten Schnittstelle experimenteller Praktiken Ende der
Sechziger (Conceptual art/lnstallation/Body art/Ecological art,
etc.) zugeschrieben wurden, aus der Thompsons Kunst her
vorging. Live-In Hive war keine öffentliche Performance, keine
Körperkunst, sondern Teil der Forschungsarbeit eines Künst
lers und seiner Beziehung zu Honigbienen. Thompson ist
schlicht Bienenzüchter, kümmert sich das ganze Jahr über um
seine Tiere, erntet Honig und Waben und versieht die
Honiggläser, die er verkauft oder an seine Freunde ver
schenkt, liebevoll mit Etiketten. Um Thompsons Erlebnis
besser zu verstehen, muß man sich Live-In Hive als Teil einer
gelebten Umgebung vorstellen, mit all den sinnlichen
Eindrücken, die den Raum erfüllten: das Summen der Bienen,
die goldgelbe glasige Farbe des Honigs, der Pollen, der
Waben und der Bienen selbst, der angenehme Geruch des
alten Lagerhauses mit seinem weichen, gefilterten Licht, die
ständige Bewegung der emsigen Arbeiterinnen, die durch die
Maschendrahtröhren ein- und ausfliegen, die Wärme, die sie
abzugeben scheinen. Es war ein Ort des Trostes, der Stille
und der Geborgenheit, an dem man sich nicht nur mit der
Natur, sondern auch mit der Industrie vor der Tür in Einklang
fühlte. Denn 1976, als Thompson seine ersten Versuche mit
Live-In Hive anstellte, lebte und arbeitete er in seinem Atelier
im "Howard Terminal- - einem Verladegelände auf den
Oakland Docks. Stellt man sich vor, wie der Künstler Tag für
Tag in vollkommener Symbiose mit seinen Bienen an einem
solchen Ort lebte, wird man die vitale Beziehung zwischen
Thompsons Leben und der Spezies, die er studiert, besser
begreifen.
Zwischen dem Realen und Anderswo
Gideon Gechtman mußte sich im April 1973 einer Herz
operation unterziehen, bei der ihm eine neue Herzklappe
eingesetzt wurde. Nach seiner Genesung stellte der in
Alexandria geborene israelische Künstler eine Dokumentation
seiner Operation zusammen, die er 1974 ausstellte. Während
der Ausstellung ließ sich der Künstler in der Galerie den Körper
rasieren und verstärkte dazu das Geräusch seines klopfenden
Herzens mit der künstlichen Herzklappe. Außerdem waren
Photos von Gechtman vor und nach der Rasur zu sehen, eine
Reihe von Schachteln mit u.a. abrasiertem Haupt-Achsel- und
Schamhaar des Künstlers, Gefäße mit Medikamenten, die er
vor und nach der Operation eingenommen hatte, Gläser mit
Urin, unter denen Tabellen angebracht waren, die über Menge
und Art der Nahrungsmittel, die er an einem Tag zu sich
genommen hatte, Auskunft gaben, Röntgenbilder seines
Brustkorbs, Photos von seiner Brustnarbe und den behan
delnden Ärzten sowie andere Relikte im Zusammenhang mit
der Operation. 1979 führte Gechtman Shaving Hair auf, eine
Performance, bei der er sich vor Publikum den Kopf rasierte
und aus seinen Haaren eine Bürste fertigte.^“ Vorher hatte er
bereits Bürsten aus den Haaren seiner Frau und seines
Sohnes hergestellt: ein direkter und ergreifender Verweis auf
den Holocaust, der Gechtmans Arbeit, Familiengeschichte
und Erinnerungen durchdringt.
Bereits im November 1971, noch vor seiner Operation, hatte
Gechtman die Idee zu einer Reihe »konzeptueller« Arbeiten. In
Mausoleum for Ten Anonymous People wollte er zehn ano
nyme Personen bestimmen und jede von ihnen so beschrei
ben, als sei sie ein »berühmter militärischer Führer oder
Herrscher, bis in die kleinsten Details - einschließlich von
Objekten aus ihrem Leben -, und sie dann in den Rahmen der
alten Tradition des Unsterblichmachens stellen«. Im Januar
1972 stellte sich Gechtman dann selbst als »lebendes Porträt«
aus. Mit geschorenem Kopf saß er vor einer Reihe lebens
großer Gummiabgüsse seines Kopfes, die nach einem Modell
208 ln meinem Aufsatz »Shaved Heads and Marked Bodies« (Anm.
184) befasse ich mich ausführlich mit dem Rasieren des Kopfes
als Bild für Unterordnung, Erniedrigung und Trauma. Siehe auch
die biblischen Traditionen in Jesaja 3, 16-26, oder Fünftes Buch
Mose 21,10-14.