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«Indem er sich physisch im signifikanten Zentrum der verbalen
und visuellen Kommunikation positionierte, äußerte sich Vau-
tier darüber, wie Künstler als Vermittler zwischen Beobachter
und Beobachtetem fungieren, indem sie auf Dinge in der Welt
zeigen und deren Bedeutung durch symbolische Produktio
nen verhandeln. Aber indem er die Aufmerksamkeit auf sich
selbst lenkte, isolierte er das Problem des Egos im Zusam
menhang mit der sozialen Rezeption von Kunst. Seine tat
sächliche Anwesenheit illustrierte die wechselseitige Verbin
dung von Karriere, künstlerischer Signatur, Ökonomie der Kunst
und dem kunsthistorischen Markt der Persönlichkeiten - all
dies geschrieben in der Textualität des Körpers.«“ Zugleich
muß aber betont werden, daß ein gewisses Maß an Frivolität
und Humor Vautiers Arbeiten ausmachte, insbesondere in sei
ner Doppelrolle als Künstler und Ladenbesitzer.
Im Unterschied zu den Projekten der orthodoxeren Fluxus
künstler hatte Vautiers Le magasin den Charakter eines totalen
Environments, der das Wahrzeichen von Kaprow, Oldenburg,
den Nouveau Realistes und bestimmten Pop art-Künstlem war.
Ähnlich wie Spoerri entwickelte Vautier ein dichtgewebtes Envi
ronment, das zum Lebensstil wurde. Wenn Oldenburg seinen
Store als etwas konzipiert hatte, was einen Anfang und ein
Ende hatte, so war Vautiers Le magasin einfach das, was er
tat und wie er lebte. Vautier photographierte den Laden 1958
das erste Mal, bezeichnete ihn 1960 als künstlerisches V\ferk
und hatte ihn 1972 endgültig in ein großfomnatiges, drei
dimensionales Tableau verwandelt, das noch die meisten
der ursprünglichen Materialien enthielt, die sich im Laufe eines
Jahrzehnts von Transaktionen angesammelt hatten. Erst ein
Jahrzent nach seiner Gründung ermutigte ihn der Kurator und
Museumsdirektor Pontus Hutten dazu, Le magasin stillzu
legen und den Verkauf an eine Institution zuzulassen.
Als er gebeten wurde, am »Festival of Misfits« in der Galerie
One in London vom 23. Oktober bis 8. November teilzuneh
men, installierte er sich selbst als Inventar im Fenster. Diese
ausgefallene konzeptuelle Strategie war aber nicht nur auf
Öffentlichkeitswirksamkett aus. In der Tat entsprangen solche
Aktionen, sowohl für Vautier, als auch für Oldenburg, Spoerri
und Wolf Vostell, dem ernsthaften Versuch, ihre künstlerischen
Aktiviäten durch kommerzielle Unternehmungen zu finanzie
ren - finanziell einträgliche Werke zu schaffen und gieichzei-
tig die Kontrolle über die Repräsentation und Integration ihrer
54 Kristine Stiles. -Between Water and Stooe; Ruxus Perfonnance:
A Metaphysics of Acts«, in: In the Spirit of Ruxus (wie Anm. 52),
S.67
Arbeit zu wahren. Für diese Künstler ließ sich dieser Vorsatz
eher metaphorisch umsetzen: durch performative Aktionen,
die den Unterschied zwischen Aktion und Objekt aufhoben.
Wenn Oldenburg seine Objekte durch seine Anwesenheit ver
kaufte, verkaufte Ben seine Anwesenheit durch seine Objekte.
Für den Beobachter wurde der makabre Galgenhumor durch
die Vertrautheit der Situation abgeschwächt, eine Person zu
sehen, die in einem Schaufenster iebte, als wäre es die Ver
längerung ihrer Wohnung - ausgestattet mit Bett, Tisch,
Stühlen, kleiner Kochgelegenheit und sogar einem Fernseher
zur Unterhaltung.
Die Arbeit des in Korea geborenen Nam June Paik entstand
aus einer Befruchtung durch die unterschiedlichsten Quelien,
unter anderem klassische und Avantgardemusik, Dada- und
Neodada-Manifestationen (wie Fluxus), radikale Politik und
eiektronische Technologie. Paik studierte Musik und Kunst
geschichte an der Universität von Tokio und schloß sein Stu
dium 1956 mit einer Arbeit über den Komponisten Arnold
Schönberg ab. In diesem Jahr reiste er in die Bundesrepublik
Deutschland, um moderne Musik zu studieren. Er immatriku
lierte an der Universität München und studierte serielle
Musik, die damals dominanteste Tendenz innerhalb der ex
perimentellen Musik in Europa. 1958 zog Paik nach Köln, um
im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rund
funks mit dem dort wirkenden seriellen Komponist Karlheinz
Stockhausen zu arbeiten und traf (Sage, der als Gast der renom
mierten Internationalen Ferienkurse für neue Musik in Darm
stadt weilte. Seine Begegnung mit dem älteren Komponisten
revolutionierte seine künstlerische Entwicklung.
Danach begann Paik Aktionsmusik zu komponieren und auf
zuführen - Anti-Musik in dadaistischer Tradition, die die
Zuhörer aus ihrer passiven Haltung herausreißen sollte. In sei
ner Hommage ä John Cage: Musik für Tonbänder und Klavier.
die in der Galerie 22 in Düsseldorf am 13. November 1959 urauf-
geführt wurde, spielte Paik zum Beispiel eine Tonbandcollage
ab und führte dabei eine Reihe gewalttätiger Aktionen aus. die
»Schreie, Spielzeug, mit Steinen gefüllte Blechbüchsen. Eier,
zerbrochenes Glas, eine lebendige Henne und ein Motorrad«“
involvierten. Am 6. Oktober führte er die Etüde für Plano im
Kölner Atelier der Künstlerin Mary Bauermeister auf. Paik been
dete diese Performance, irrdem er beim Bühnenabgang auf
den im Publikum sitzenden Cage zuging, ihm die Krawatte
55 Michael Nyman. »Nam June Paik. Composer« in; John G. Han-
harrit, Nam June Paik. Ausst.~Kat., WTxtney Museum of American
Art. New York 1982. S. 82.