Wolf Vostell, Niederschrift des Happenings Nein-9-de-coll/agen,
1963. Besitz des Künstlers
wirklichem Leben entdeckt?«^® Im Rahmen derselben Aus
stellung spannte Takamatsu von der geschäftigen Ueno U-
Bahnstation einen Faden, der sich durch einen weiten Park
(in der Tradition von Gutai) bis ins Museum zog. Die auf den
ersten Blick unscheinbare Aktion rückte ins öffentliche Inter
esse, als eine alte Frau im Park überden Faden stolperte, den
Vorfall der Polizei meldete, deren Ermittlung ergab, daß das
Corpus delicti zu einem Event des staatlichen Museums
gehörte.
Im Vergleich zum Skandal, der Akasegawas Verurteilung als
Geldfälscher im Jahr 1965 hervorrufen würde, was dies aller
dings eine Lappalie. 1963 kopierte Akasegawa gefälschte, nur
einseitig bedruckte 1000-Yen-Scheine, die von einem poli
zeigesuchten Fälscher in Umlauf gebracht worden waren. Er
tapezierte damit Wände, wickelte seine Arbeiten darin ein und
lud damit zu seiner Einzelausstellung in der Shinjuku Dai-Ichi
Galerie. Akasegawa bediente sich der Respektlosigkeit und
des Flumors des kommerziellen Kunstmarktes, den Oldenburg,
Manzoni und andere untersucht hatten, als Waffe, um die
unfähige städtische Polizei zu foppen, die außerstande war,
den eigentlichen Fälscher zu fassen. Als jemand versuchte,
die einseitig bedruckten Geldscheine regulär in Umlauf zu brin
gen, wurde Akasegawa wegen Geldfälscherei verhaftet. Die
Verhandlung, die im August 1966 stattfand, wurde zu einer Ana
lyse der Performance-Kunst, die weithin Beachtung fand. Da
die Verteidigung der renommierten Kunstkritiker und Kunst
historiker darauf basierte, Akasegawas Werke als Kunst zu defi
nieren, zeigten die Künstler ihre kontroversen Arbeiten, um das
Gericht zur Kunstdefinition zu zwingen. Unter den dort prä
sentierten Arbeiten war auch der Faden von Takamatsu und
der Fli Red Center-Event ShelterPlan, der aus einer Fülle von
Blaupausen bestand, die vom Staatsanwalt entrollt werden
mußten und die nackten Künstler zeigten. Diese Verhöhnung
der Justiz, in einem Land, dessen juridisches System von den
USA revidiert worden war, demonstrierte die Macht der freien
Meinungsäußerung und gab der Performance-Kunst gleich
sam eine politische Plattform. Ein vergleichbares Ereignis wäre
in den USA damals kaum vorstellbar gewesen. Als die Chi
cago 7, denen die Happenings bekannt waren, in ihrer Ver
handlung eine ähnliche Taktik einschlugen, wurden sie mit emp
findlichen Strafen belegt. Und obwohl Akasegawa letztlich ver
lor, wurde, wie Paik sich in seinem 1994 erschienenen Essay
59 Genpei Akasegawa, zit. in: ibid., S. 156.
60 »To Catch Up or Not to Catch Up with the West: Hijikata and Hi
Red Center«, In: ibid., S. 81.
»To Catch Up or Not to Catch Up with the West: Hijikata and
Hi Red Center'^ erinnert, »der Event zu einer Cause celebre.
Die Grand Central Station, das Arsenal und Flughäfen wur
den schon für Happenings-Szenarien und als Hintergründe ver
wendet. Nie aber habe ich von einer besseren Szenerie als
dieser gehört - ein richtiger Gerichtsaal. Ich wette, lonesco
wäre neidisch.“®
Durch ein Netzwerk von Freundschaften mit Künstlern des
Nouveau Realisme, des Happenings, des Fluxus und der
Destruction Art konnte Wolf Vostell einen bedeutenden Anteil
der Aktionsgemeinschaft der sechziger Jahre beeinflussen.
Seine Zeitschrift De-coli/age: Builetin aktueller Ideen, die er
von 1962 bis 1967 herausgab, erlaubte ihm vor allem, Ver
bindungen innerhalb dieser Tendenzen herzustellen. Abge
sehen von der Veröffentlichung der Arbeiten und Schriften jener
Künstler, denen er sich nahe fühlte, nützte Vostell seine Zeit
schrift auch, um seine eigene Arbeit bekannt zu machen. Die
Objekte, Installationen und Happenings, die er in den späten
fünfziger Jahren herzustellen begann, waren allesamt Aus
drucksformen einer Philosophie, die er mit dem Begriff De-
coll/age beschrieb. Vom französischen decollage abgeleitet,
das im Bereich der bildenden Kunst das Abziehen von
Schichten geklebten Papiers von ihrem Untergrund bedeu
tet, wurde der Begriff für Vostell wichtig, nachdem er ihn in
einem Artikel in Le Figaro vom 6. September 1954 in Zusam
menhang mit einem Flugzeugabsturz gelesen hatte. Wie Kri
stine Stiles bemerkt hatte: »Er eignete sich den Begriff an, um
eine ästhetische Philosophie zu bezeichnen, die sich auch auf
Live-Performances anwenden ließ und durch die die destruk
tiven, gewalttätigen und erotischen Ereignisse des zeit
genössischen Lebens zusammengebracht und übereinan-
dergelegt werden konnten. Durch die Hervorhebung der ge
trennten Silben unterstrich er die dialektische Bedeutung des
Begriffes, der sowohl dem kreativen wie dem destruktiven Pro
zeß, den natürlichen und biologischen Systemen, den kultu
rellen und sozialen Strukturen eigen ist.«®^
Vostells Ziele waren weitaus strategischer als die der
konzeptuell denkenden Fluxus-Künstler. Fasziniert von der
Macht der Technologie und der Konzeption der modernen Stadt
als Performancebühne, entwickelte Vostell eine künstlerische
Vision, die über die zur gleichen Zeit entstandene von
Kaprow hinausging. Die Tatsache, daß Vostell als Jude den
61 Kristine Stiles: »Decollage«, in: The Dictionary of Art, hrsg. von
Jane Turner, Bd. 8, New York 1996, S. 608 f.