332
aufs genaueste, er forscht den Triebfedern ihrer Handlungen nach und zerfasert diese mit
ebenso tiefem historischen als psychologischen Sinn. Er schildert die Kämpfe der Katholiken
und Protestanten, die Schwärmerei der in Siebenbürgen zur Entwicklung gelangten
kleineren protestantischen Secten, die in Wien und Konstantinopel gesponnenen Ränke, die
Gewaltherrschaft der Geistlichkeit und des Adels, den siebenbürgischen Fürstenhos, kurz
den ganzen Geist, das ganze öffentliche und private Leben des XVI. und XVII. Jahrhunderts.
Seine Romane sind wahre Tragödien, und zwar „schildert er nicht sowohl das
Tragische der Verbrechen, als vielmehr die Jrrthümer der edlen Leidenschaften, sozusagen
der Tugend". In seinen geschichtlichen Romanen: „Gyulai Päl", „Die Witwe und ihre
Tochter", „Die Schwärmer", „Rauhe Zeit", sowie in den socialen Romanen und Novellen:
„Mann und Frau", „Liebe und Eitelkeit", „Nebelbilder", „Abgründe des Herzens"
gerathen die Helden größtentheils durch die Übertreibung des Edelmuths, der Tugend,
ins Verderben. Seine tragische Auffassung und rauhe Hoheit, der fast gänzliche Mangel
an heiteren idyllischen Bildern machen seine Romane ermüdend. Man muß sie förmlich
studiren, dann aber sieht man mit wahrem Kunstgenuß, wie Kemeny seinen künstlerischen
Zweck auf das engste mit der geschichtlichen Wahrheit verknüpft, wie er die Charaktere
vorzüglich malt, die geheimsten Schlupfwinkel des Herzens erstaunlich genau kennt, die
Wirrnisse der zusammengesetzten Leidenschaften psychologisch zergliedert und in ergreifenden
Monologen den Seelenzustand des Individuums auseinanderlegt. Immer strebt er nach
Vollständigkeit und Jndividualisirung, dem Typus geht er aus dem Wege. Seine Gefüge
sind schwerfällig, er hat weniger Formsinn, Anmuth und Leichtigkeit des Erzählens sind
ihm fremd, allein er überströmt fortwährend von Ideen, ursprünglichen Gedanken, über
raschenden Einfüllen, von Bildern und Gleichnissen, die er der Kunst und Wissenschaft,
dem Leben und der Erfahrung entlehnt. Kein anderer ungarischer Romanschriftsteller weiß
die Einwirkung der Natur und Umgebung getreuer darzustellen. Vollends ist er, wie
Gyulai schreibt, der poetischeste Dolmetsch jenes Seelenzustandes, „wo die Dialectik des
Verstandes das Herz oder die des Herzens den Verstand einschläfert, wo die Einbildungs
kraft die Gegenstände vergrößert oder verkleinert und die Leidenschaft befeuert oder kühlt,
des Zustandes von Taumel und Ernüchterung, von Hingerissenheit zur That im Gefühl
der Rückwirkung dieser That, von unbestimmter Träumerei und ahnungsvollem Brüten.
Diese Stellen seiner Romane werden allezeit zu den schönsten Blättern der ungarischen
Dichtung gehören."
Noch vor Kemeny war Ludwig Kuthy ausgetreten, einer der gelesensten Schrift
steller der Vierziger-Jahre. Sein Roman: „Vaterländische Mysterien", obgleich als
Ganzes ein verfehltes Werk, ist das Zeugniß eines außergewöhnlichen Talents. Kuthy ist
weder in der Auffassung, noch in der Charakterzeichnung stark, aber einige seiner Land-