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Zur Geschichte der griechischen Keramik.
Wie ein Meteor aufflammend und verschwindend, seltsam contrastirend mit der
Vergangenheit, mit der folgenden Entwicklung nur lose verknüpft, tritt der mykenische
Stil in die Geschichte der griechischen Keramik ein. Wohl kennt dieser Stil auch gerad
linig verzierte Gefässe (vgl. Nr. 29, das einzige Stück, das wir besitzen), aber das, was so
recht seine Eigenart ausmacht, ihn in Gegensatz zu seinem Vorgänger und Nachfolger
stellt und als Ausfluss eines ganz anderen künstlerischen Empfindens erweist, ist die Vor
liebe für die gekrümmte Linie und die theils unmittelbare, theils stilisirte Nachahmung
von Naturformen, bei deren Wiedergabe ebenfalls die Curve vorwiegt. Diese Naturformen
sind fremdartig und seltsam genug. Sie zeigen, dass die Vasen in der Nähe des Meeres
entstanden sein müssen. Neben vegetabilischen Motiven — Epheu, Wasserpflanzen, Blättern
mit und ohne Ranken — bildet alles das, was das Auge des Strandbewohners fesselt,
Fische, Seesterne, Quallen, Polypen, Nautilus und Purpurschnecken das Repertoire dieses
Stiles, zu dem von rein linearen Motiven die Spirale hinzukommt. Später erweiterte er den
Kreis seiner Darstellungen, indem er Vierfüssler, Vögel und Menschen einbezog. Ein Ein
fluss der orientalischen Kunst, die doch zu jener Zeit nicht blos führend, sondern geradezu
alleinherrschend war, ist in der mykenischen Keramik nur wenig zu merken; ihre Lotos-
und Palmettenreihen, sowie ihre Greife, Sphinxe und Löwen fehlen gänzlich. Welches
Volk Träger der mykenischen Cultur gewesen ist, ob die Achäer des homerischen Epos
oder die seebeherrschenden Karer, ist heute noch nicht ausgemacht. Auch die Zeitbe
stimmung ist noch nicht in abschliessender Weise vollzogen. Es setzt eine allzu grosse
Stabilität dieses Stiles voraus, wenn man seine Blüthe in die Mitte des 2. Jahrtausends
v. Chr. verlegt.
Das lineare oder geometrische Ornamentationsprincip war mit dem Auftreten
des mykenischen Stiles keineswegs abgethan. Theilweise neben ihm, theilweise unmittel
bar nach ihm lässt sich auf griechischem Boden eine Fortsetzung der geometrischen Ver-
zierungsweise beobachten, die allerdings von den Errungenschaften der mykenischen Kunst
in Bezug auf Technik und das allgemein Decorative bereits umfassenden Gebrauch macht.
Es ist dies der sogenannte Dipylonstil. Der Name stammt von einem Thore von Athen,
in dessen Nähe die bedeutendsten und zahlreichsten Vertreter dieses Stiles, die eigentlichen
Dipylonvasen, in Gräbern gefunden worden sind. Dass dieselben auch in Attika verfertigt
wurden, ist natürlich damit noch nicht bewiesen, wenn auch aus anderen Gründen nicht
unwahrscheinlich. Die Gefässformen dieses Stiles, der in unserer Sammlung gut vertreten
ist, sind, wie der schöne Krug Nr. 3o, die Büchse Nr. 31, der Becher Nr. 32 zeigen, durch
aus verschieden von denen, welche der mykenische Stil ausgebildet hat und ihnen tek
tonisch überlegen; nur die Amphorenform von Nr. 35 sowie Nr. 34 könnte man als mykenisch
in Anspruch nehmen. Ebenso abweichend sind die decorativen Einzelmotive. Vegetabilische
Elemente sucht man vergebens; statt ihrer herrschen die geradlinigen Motive vor: Mäander
band, Zickzack, Hakenkreuz, Raute, Schachbrettmuster, daneben durch Tangenten
verbundene Kreise und Sternrosetten. Während der mykenische Stil seine Formen mit
frischer Unbekümmertheit gross und breit auf die Flächen der Gefässe wirft oder nur die
oberen Theile derselben verziert, kann der Dipylonstil Raffinement und Kleinlichkeit nicht
verläugnen. Mat hat Motive und sucht sie anzubringen, um nur die Flächen zu bedecken.
Die Vasen sind in zahlreiche umlaufende Streifen getheilt, die nun peinlich und sorgfältig
ausgefüllt werden. Deutlich ist aber Sinn für Gesetzmässigkeit zu erkennen. Man beachte,
wie an dem Kruge Nr. 3o die Mitte des Bauches und des Halses durch den breitesten
Streifen betont wdrd, und die ausgesprochene Symmetrie in den metopenartigen Feldern von