EINLEITUNG
Schon der Wittenberger Gelehrte und Humanist Christoph Scheuerl, ein Zeitgenosse
Cranachs, meinte, daß, „wenn man als einzigen Albrecht Dürer, dieses unzweifelhafte
Genie, ausnimmt, Lucas Cranach allein in der lange vernachlässigten, jetzt neu
erwachten Malerkunst der oberste Rang gebühre“. Zweifelsohne gehört Lucas
Cranach d. Ä. mit Albrecht Dürer, Hans Burgkmair, Albrecht Altdorfer und den
beiden Holbein zu jenen Künstlern, die um und in den ersten Jahrzehnten nach 1500,
der Zeit der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, der Kunst nördlich der Alpen einen
neuen Weg wiesen. Dabei stand bei Cranach, so wie es Scheuerl formulierte, die Malerei
im Vordergrund; war sie, wie man zumindest aufgrund der Zahl der geschaffenen
Objekte schließen kann, mehr seine Stärke als die Graphik. Dennoch vermochte
Cranach gerade in seinem Holzschnittwerk einen Weg zu beschreiten, der, von einer
eigenen, einzigartigen Ausdruckskraft erfüllt, durch seine Dramatik und leidenschaft
liche Gefühlstiefe von höchster Überzeugungskraft ist.
Lucas Cranach wurde 1472, ein Jahr nach Albrecht Dürer, in dem bischöflich-
bambergischen Städtchen Kronach als Sohn des Hans Maler geboren. Der Name
seines Vaters beinhaltet auch offenbar zugleich die Berufsbezeichnung. Über die ersten
dreißig Jahre in Cranachs Leben fehlt so gut wie jede Nachricht. Erst gelegentlich
seines Aufenthaltes in Wien, wo er von etwa 1500 bis 1504 tätig war, wird sein Werk
zum ersten Male faßbar. Es sind zwei Holzschnitte, die er 1502 in Wien schuf, beide
stellen Christus am Kreuz mit Maria und Johannes dar. Sie zeigen, daß Cranach den
Realismus der Figur samt nahezu barocken Bewegungsmotiven mit dem Realismus
der Landschaft unter besonderer Berücksichtigung der Darstellung des Reichtums
der Natur, ihrer Zartheit und ihrem Sturme zu vereinigen wußte. Damit aber können
Schlüsse gezogen werden, woher Cranach kam. Wahrscheinlich hatte ihn seine Wander
schaft über Nürnberg geführt, wo er Albrecht Dürer kennenlernte und von dessen
machtvoller Gestaltungsweise der Holzschnitte der neunziger Jahre beeinflußt wurde.
Über Dürer, oder allgemein während seiner Wanderschaft, muß er auch dem spät-
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