1506 entsteht in Wittenberg der „Erzengel Michael als Seelenwäger“ (Kat.-Nr. 4,
Abb. 1), eine der großartigsten und monumentalsten Engelsgestalten der altdeutschen
Kunst überhaupt, beeindruckend durch seine dynamische, ungestüme Bewegung.
Bei der im selben Jahr entstandenen ersten Turnierdarstellung Cranachs (Kat.-Nr. 5,
Abb. 6/7) werden die Zuschauer gleichwertig zum Hauptgeschehen in das Bild mit-
einbezogen. Bürger, Leute aus dem Volk, Geschäftemacher, Bauern und schwatzende
Frauen lassen das höfische Geschehen vergessen, ein volkstümlich, narratives Bild
mittelalterlichen Stadtlebens entsteht.
Dr. Scheuerls Bericht zufolge unternahm Cranach im Sommer 1508 eine Reise in
die Niederlande „um seine Kunst zu vervollständigen“. Die nach der Heimkehr
nach Wittenberg entstandenen Bilder bestätigen jedoch nur ganz allgemein Cranachs
persönliche Berührung mit der niederländischen Kunst. Immerhin unterscheiden sich
jedoch die 1509 entstandenen Turnierbilder, die als „zweites und drittes Turnier“
(Kat.-Nr. 6 und 7, Abb. 8—11) bekannt sind, wesentlich von dem ersten. Sie gehen
auf ein am 15. und 16. November 1508 in Wittenberg veranstaltetes Turnier zurück,
an dem Johann der Beständige in Stellvertretung seines Bruders Kurfürst Fried
rich III. teiigenommen hat. Die Massenszenen werden hier durch das Weglassen aller
nicht unmittelbar zum Hauptgeschehen gehörigen narrativen Details bewältigt, dem
höfischen Geschmack folgend schließt sich der Künstler zum Teil italienischen Vor
bildern an und findet damit im Holzschnitt seinen Weg zum höfischen Manierismus.
Diese dem Bereich höfischen Lebens geltenden Druckgraphiken bleiben jedoch selten.
Vielmehr beschreitet Cranach den Weg einer Trennung seines Werkes in eine antiki-
sches Formengut aufgreifende, dem höfischen Geschmack verbundene Malerei und
eine volkstümlich gemeinte Graphik, in der er jene Stilrichtung weiterverfolgt, zu
der er zu Anfang, in seinen Wiener Jahren, gefunden hatte.
So sind die bis 1509 entstandenen Illustrationen zum Wittenberger Heiltumsbuch,
einem Verzeichnis der 5.005 „Partikel“ umfassenden Reliquiensammlung Friedrichs
des Weisen, voll und ganz dem üppigen Formenreichtum der Spätgotik verbunden
(vgl. Kat.-Nr. 1, Abb. 2, Kat.-Nr. 2, Abb. 3 und Kat.-Nr. 3, Abb. 4/5).
Cranachs Leidenschaftlichkeit und Erregtheit in der Schilderung, seine Freude an
einer Erzählung mit aller Wildheit und Derbheit, alles Eigenheiten, die nicht nur
dem Donaustil entsprechen, sondern das notwendige Gegengewicht des Ausdrucks
in der Figur zu den bizarr-romantischen Landschaften und Naturdetails geben,
bestimmen auch die um 1512 entstandenen Apostelmartyrien (Kat.-Nr. 8 19,
Abb. 12—23). Die Schilderung der grauenhaften Marterszenen wird voller Brutalität
und mit größter Unmittelbarkeit gegeben. Damit aber wird die Spannung zwischen
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