EINLEITUNG
Das große Problem der europäischen Bildkunst ist die Frage nach der Beziehung
des Realismus zum Naturalismus. Unter Realismus soll hierbei die Absicht verstanden
werden, die wahre Realität des Gesehenen im Bild zu zeigen, unter Naturalismus,
die gesehene Form und äußere Erscheinung auf alle Fälle zu erhalten und „richtig“
wiederzugeben.
Die beiden Absichten können sich decken, müssen es aber nicht, da es denkbar ist,
die Realität eines Gegenstandes darzustellen, während man sein äußeres Erscheinungs
bild verändert.
Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Frage ohne Zweifel in sehr entschiedener
und ernster Weise gestellt, was dazu führte, daß einerseits die Unabänderlichkeit
der natürlichen Erscheinung besonders betont, ja die Wiedergabe der Natur als
einzige Aufgabe der Malerei angesehen, andererseits aber die Formauflösung als
einzige Möglichkeit der Darstellung der wahren Realität gefordert wurde. Dazu
kommt, daß die ersten Vertreter beider Richtungen der gleichen Generation ent
stammen. Dabei muß nun berücksichtigt werden, daß der Weg zur Formauflösung
in zweifacher Weise beschritten werden kann: einmal vom optischen Eindruck
ausgehend durch Auflösung der Konturen ebenso wie der Flächen und durch optisch
gewonnene Möglichkeiten der Steigerung von Einzelheiten beziehungsweise Weg
lassungen von Details, des „Flüchtigwerdens“ und „Ungenauen“ in der Wiedergabe
des Gesehenen. Zum anderen von außerkünstlerischen, philosophisch-literarischen
Spekulationen des Aufstellens eines Formprinzipes ausgehend, dem die Darstellung
des Gesehenen untergeordnet wird, das so lange einem formalen Veränderungsprozeß
unterworfen wird, bis es der vorgefaßten Meinung entspricht.
Für die erste Richtung ist an den Anfang wohl Cezanne und der Steigerungsexpres
sionismus des frühen 20. Jahrhunderts zu setzen, für die zweite Richtung ist der
hervorragendste Vertreter Picasso. Damit aber sind nur die ersten Schritte und die
beiden extremsten Wege gemeint, zwischen denen es eine Fülle von Zwischen-
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