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Volks- und Bürgerschulen: IV. Religions-Unterricht.
Die allgemeinen Grundsätze, nach welchen in sämmtlichen evangelischen
Schulen der Monarchie der Religions - Unterricht ertheilt wird, lassen sich in
Folgendem zusammenfassen:
1. Die Religion ist in erster Linie nicht sowohl Sache des Verstandes,
als vielmehr Sache des Gemüthes und des Willens. Der Zweck des Religions
unterrichts ist also Sättigung des- Gemüths mit frommen Gefühlen und An
regung der Willensthätigkeit, diesen Gefühlen durch ein frommes Lehen Aus
druck zu geben.
2. Da aber Gemüth und Wille nur dann disciplinirt sind, wenn sie eine
gediegene Verstandesbildung zur Seite haben, so muss der Religions-Unterricht
auch darauf Redacht nehmen, die religiöse Erkenntniss zu wecken und zu
fördern.
3. Da es einer der Grundsätze des Protestantismus ist, alle religiöse
Erkenntniss nur in der Form der persönlichen Ueberzeugung als sittlich be
rechtigt anzuerkennen, so ist es Aufgabe des Religions-Unterrichts, dahin zu
streben, dass der sämmtliche angeeignete religiöse Erkenntnissvorrath schliesslich
einen Restandtheil der Ueberzeugungen des der Schule entlassenen Kindes bilde.
4. Zu diesem Rehufe muss von der einseitig dogmatischen Darstellung
des religiösen Erkenntnissstoffs abgesehen, es muss vielmehr die historische
zur Grundlage genommen werden. Auf der Basis der aus der Kenntniss der
Geschichte der christlichen Religion geschöpften christlichen Grundideen muss
sich alsdann die genauere Erkenntniss der christlichen Lehre, und zwar der
specifisch protestantisch-christlichen Lehre erbauen.
Da der Religions - Unterricht seiner formalen Seite nach sich nothwendig
den allgemeinen Gesetzen der pädagogischen Wissenschaft unterordnen muss,
so ergeben sich noch folgende Sätze, welche, in manchen Schulen in abgekürz
ter, in andern in erweiterter Form, zur Geltung gelangen. Der Kürze wegen
nehmen wir als Mittel zwischen den ein- und den mehrclassigen Volksschulen
drei Stufen an, innerhalb welcher der Religions-Unterricht ertheilt wird.
1. Aller Jugend-Unterricht muss von der Anschauung ausgehen. Die
erste Stufe des Religions-Unterrichts ist daher der religiöse Anschauungs
unterricht.
2. Da die Kenntniss der Geschichte der christlichen Religion die Grund
lage sowohl für die Erkenntniss der in der christlichen Religion waltenden
sittlichen Grundideen, als auch für die Anbahnung einer theoretischen Auf
fassung der religiösen Wahrheiten bildet, so ist die Aneignung der biblischen
Geschichte die auf der zweiten Stufe allgemein gebräuchliche Unterlage
für allen weiteren sittlichen und intellectuellen religiösen Unterrichtsstoff. Auf
der dritten Stufe wird dieser Unterricht in der biblischen Geschichte erweitert
und durch den in der Kirchengeschichte ergänzt. Zugleich wird auf der
zweiten Stufe der Unterricht durch Erlernung von Kernsprüchen der heiligen
Schrift, sowie von Kernliedern des evangelischen Gesangbuchs unterstützt.