BLAETTER UND BLUMEN NACH DER NATUR.
Kenntniss der Architektur, und dieser Umstand führte zur Entwickelung jener Eigenheiten, welche die
elisabetheische Architektur von der reinem Baukunst der Renaissance unterschieden.
Wir glauben daher mit Recht annehmen zu dürfen, dass es möglich ist einen neuen Ornamentationsstyl
zu schaffen, ganz unabhängig von der Nothwendigkeit eines neuen architektonischen Styles; ja, wir
o-lauben vielmehr, dass die Erfindung eines neuen Styles der Ornamentation das leichteste Mittel zur
Bildung eines neuen Baustyles abgeben würde: wenn man z. B. dazu gelangen könnte einen neuen Aufsatz
zur Verzierung der Pfeiler und anderer architektonischen Stützen zu erfinden, so wäre schon einer der
schwierigsten Punkte vollbracht.
Die Haupttheile einer Baute die den Styl derselben angeben, sind, erstens, die Tragestutzen; zweitens
die Mittel zur Ueberspannung des Raumes zwischen den Trägern; drittens, die Gestaltung des Daches.
Die Ausschmückung dieser baulichen Theile aber ist es, die den Charakter des Styles verkündet, und diese
Theile stehen in so natürlicher Folgenreihe mit einander, dass die Erfindung eines einzigen derselben die
der übrigen notbwend.ig berbeifübren würde.
' Beim ersten Anblick dürfte es wohl scheinen, als ob alle Mittel diese baulichen Theile zu vermannich-
faltigen, gänzlich erschöpft worden wären, und dass uns also nichts weiter gelassen sei, als dies oder jenes
von den bereits abgenutzten Systemen zu unserem Gebrauch zu wählen.
Was bleibt aber übrig, wird man wohl fragen, wenn wir den Pfeiler und den horizontalen Balken der
Griechen und der Aegypter, den Rundbogen der Römer, den Spitzbogen und das Gewölbe des Mittelalters
und die Kuppeln der Muhammedaner verwerfen sollen ? Auch wird man uns wahrscheinlich sagen, dass
jedes Mittel den Raum zu bedecken bereits erschöpft und es daher unnütz sei, andere Formen zu suchen.
Darauf antworten wir, dass man zu jeder Zeit dieselbe Einwendung hätte machen können. Hätte der Aegypter
es sich je einfallen lassen können, dass man zur Ueberspannung des Raumes andere Mittel erfinden werde, als
die bei ihm gebräuchlichen Ungeheuern Steinblöcke ? Hätte der mittelalterliche Architekt es sich je träumen
lassen, dass man einst seine luftig leichten Gewölbe Übertreffen, oder dass man mittelst hohler eisernen
Röhren über Abgründe und Meerbusen setzen werde? Verzweifeln wir also nicht: die Veit hat ganz
gewiss noch nicht das letzte Bausystem gesehen. Wir bewegen uns zwar in einem Zeitalter der Nachbildung
und unsere Architektur verräth unstreitig grossen Mangel der Vitalität, doch hat die W eit auch m frühem
Zeiten ähnliche Perioden zu Überstehen gehabt. Aus dem gegenwärtigen Chaos wird sich ohne Zweifel
(wenn auch vielleicht nicht in unserer Zeit) eine neue Baukunst entwickeln, würdig in jeder Beziehung der
riesigen Fortschritte, welche die Welt in ihrem Streben nach dem Baume der Erkenntniss gemacht hat.
Um wieder auf unsern Gegenstand zurückzukommen, wie soll also ein neuer Kunststyl oder ein neuer
Ornamentationsstyl gebildet werden, und auf welche Weise soll der Versuch zu solcher Umbildung einge
leitet werden? Wir gestehen, dass wir kaum der Hoffnung Raum geben können, mehr als den Anfang der
Umwandlung zu erleben. Die Baukünstler unserer Zeit sind einerseits zu sehr unter der Einwirkung einer
der Vergangenheit angehörigen Erziehung, und andererseits sind sie dem hemmenden Einfluss eines schlecht
unterrichteten Publikums zu sehr ausgesetzt. Das gegenwärtig auf kommende Geschlecht aber ist unter
günstigem Umständen und glücklicherer Vorbedeutung für alle Klassen geboren, und erlaubt uns einer
hoffnungsvollen Zukunft entgegen zu sehen. Zum Gebrauch dieser kommenden Generation haben wir die
gegenwärtige Auswahl aus den Werken der Vergangenheit gesammelt, nicht etwa um die knechtische Nach
ahmung derselben zu empfehlen, sondern damit Künstler die Gelegenheit haben, jene Prmcipien, welche m
allen den Werken der Vergangenheit vorherrschten und allgemeine Bewunderung erregt haben, mit Auf
merksamkeit zu prüfen, um dadurch zum Schaffen neuer ebenso schöner Formen angeregt zu werden.
Wenn der Kunstforscher, dem es ernsthaft um sein Streben nach Kenntniss zu thun ist, jedem Versuche der
Trägheit widersteht, auf eigener Faust dkTVVerke der Vergangenheit untersucht, sie mit den Werken der
Natur vergleicht, und seine Geisteskraft anstrengt um die in jedem derselben obwaltenden Prmcipien voll
ständig zu würdigen, so muss er unfehlbar selbst zum Schöpfer werden und neue selbstständige Formen
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