ift. Der in London empfundene Mißftand ift im Grunde nur auf
Mangel an Vorausficht und an nötigen Vorkehrungen zurück
zuführen. Zum Beweis hierfür mag ein Zitat aus der Hdreffe
des Präfidenten Sir Benjamin Baker an das Institute of Civil
Engineers vom 12. November 1895 am Platte fein: »Wir Londoner
beklagen uns oft über den Mangel an fyftematifcber Anordnung
der Eifenbabnlinien und ihrer Endftationen in und um unterer
Hauptftadt, der uns nötigt, lange Drofchkenfahrten zu machen,
um von einem Bahnhof zum andern zu gelangen.« Diefer Miß
ftand ift nach meiner Überzeugung bauptfäcblicb auf einen Mangel
an Überlegung eines fonft fehr kundigen Staatsmannes, Sir
Robert Peel, zurückzuführen. Im Jahre 1836 wurde im Unter
haufe ein Antrag dahin eingebracht, daß alle Eifenbahnvorlagen,
die um die Genehmigung von Endftationen in London einkämen,
an einen Sonderausfchuß verwiefen werden follten, damit dem
Parlament ein aus den verfchiedenen Projekten gebildeter, voll-
ftändiger Plan unterbreitet werden könnte, und daß geeigneter
Grund und Boden nicht unnötigerweife für Konkurrenzprojekte
verloren ginge. Sir Robert Peel widerfprach dem Antrag von
feiten der Regierung mit der Begründung, kein Eifenbabnpro-
jekt käme zur Ausführung, bevor die Majorität des Parlaments
nicht erklärt habe, daß die Prinzipien und Einrichtungen zweck-
entfprechend feien und die Anlage nützlich fcheine. Es fei in
folchen Fällen anerkanntes Prinzip, daß der Plan nicht genehmigt
würde, bevor nicht bewiefen würde, daß der vorausficbtlicbe
Gewinn ausreiche, um dauerndes Beftehen im Intereffe der All
gemeinheit zu fichern. Die Grundherren dürften gegenüber
weitfliegenden Plänen eine folche Garantie mit Recht vom Par
lament erwarten und fordern. Bei diefer Gelegenheit wurde
den Londonern unabfichtlich unberechenbarer Schaden zugefügt,
denn auf diefe Weife wurde die Errichtung eines großen Zen
tralbahnhofes in der Hauptftadt verhindert. Die Ereigniffe haben
zudem erwiefen, wie falfch die Annahme ift, daß ein Parlaments-
befchluß irgend eine Garantie für das finanzielle Gedeihen eines
Eifenbahnunternehmens böte. □
Soll nun aber das englifche Volk für alle Zeiten unter dem
Mangel an Vorausficht derer leiden, die fich die zukünftige Ent
wicklung der Eifenbahnen wenig träumen ließen? Sicherlich
nicht. Es lag in der Natur der Dinge, daß das erfte Eifenbahn-
ne§ nicht nach einheitlichen Gefichtspunkten gebaut werden
konnte. Je^t aber, bei dem Ungeheuern Fortfehritt auf dem
Gebiete des Schnellverkehrs, ift es die höchfte Zeit, daß wir uns
diefe Mittel in ausgedehnterem Maße zunutje machen und untere
Städte nach einem ähnlichen Plan aufbauen, wie ich ihn vorher
in den Grundzügen entworfen habe. Wir würden dann, dank
der fchnellen Verkebrsmöglicbkeiten, einander näher gerückt
fein als in unfern übervölkerten Städten, und doch zu gleicher
Zeit unter den gefundeften und vorteilhafteften Bedingungen
leben. a
Einige meiner Freunde haben den Einwurf gemacht, daß ein
folcher Plan von Städtegruppen nur da zur Ausführung gebracht
werden könne, wo es fich um unbefiedeltes Land handle, daß
aber die Sachlage in einem altbefiedelten Lande mit feinen ge
gebenen Städten und einem zum größten Teil abgefchloffenen
Eifenbahnfyftem eine ganz andere fei. Eine derartige Anficht
ausfprechen, heißt aber behaupten, daß die beftehenden Ein
richtungen des Wirtfchaftslebens ewiger Natur und immer ein
Hindernis für die Einführung neuer Einrichtungen fein follen;
daß übervölkerte, fcblecbt durchlüftete, planlos gewachfene und
verbaute ungefunde Städte — Gefchwüre, die das Antlitj unterer
febönen Infel verunftalten - Schranken für die Gründung von
neuen Städten fein follen, in denen die Prinzipien moderner
Städtetechnik und die Beftrebungen der Sozialreformer den
weiteften Spielraum zur Entfaltung finden können. Nein, das
kann nicht fein, wenigftens nicht mehr für lange Zeit. Was ift,
kann das, was fein follte, für eine Weile hemmen, aber es kann
die Flut des Fortfehritts nicht aufhalten. Diefe übervölkerten
Städte haben ihren Zweck erfüllt. Eine auf Selbftfucht und
Habgier fich aufbauende Gefetlfchaft konnte nichts Befferes
bervorbringen. Aber fie find ihrer Natur nach gänzlich un
geeignet für eine Gefellfchaft, in der die foziale Seite unterer
Natur mehr nach Betätigung und ein verfeinerter Egoismus
größere Rückfichtnabme auf das Wohlergehen unterer Näcbften
verlangt. Untere heutigen Großftädte find kaum beffer für den
Ausdruck diefes Geiftes brüderlicher Liebe geeignet, als für
untere heutige Schule ein Werk über Aftronomie, das etwa
lehrte, die Erde ftände im Mittelpunkt des Univerfums. Jede
Generation muß ihren Bedürfniffen entfprechend bauen. Ebenfo-
wenig wie man die Menfcben zwingen kann, an dem alten
Glauben feftzubalten, über den ein geklärterer Glaube und ein
vertieftes und erweitertes Verftändnis hinaus gewachten find,
ebenfowenig kann man von ihnen erwarten, daß fie in den alten
Wobnftätten weiter wohnen follen, weil ihre Vorfahren darin
gewohnt haben. Der Lefer wird darum allen Ernftes gebeten,
nicht zu glauben, daß die Großftädte, auf die er wohl ver
zeihlicherweife ftolz fein mag, in ihrer gegenwärtigen Geftaltung
von größerer Dauer find als das Poftkutfcbenfyftem, das gerade
in dem Augenblick, wo es durch die Eifenbabn verdrängt werden
follte, der Gegenftand fo großer Bewunderung war*). Führen
wir unfere gewichtige Frage auf ihre Elemente zurück, fo lautet
fie: Was verfpriebt belfere Refultate? Eine nach einem weit-
fichtigen Plan ausgefübrte Neuanlage auf verhältnismäßig jung
fräulichem Grund und Boden oder der Verfucb, unfere alten
Städte unteren neueren und höheren Bedürfniften entfprechend
umzugeftalten? Wenn man fich die Frage fo ftellt, fo kann die
Antwort nicht zweifelhaft fein, und die auf diefe Weife gewonnene
Erkenntnis bedeutet den fchleunigen Anfang der fozialen Re
volution. n
Es wird jedem einleuchten, daß genügend Grund und Boden
in diefem Lande vorhanden ift, auf dem eine Städtegruppe, wie
ich fie hier befchrieben habe, erbaut werden könnte, und dies
brauchte nur mit verhältnismäßig geringer Störung gefe^lich
gefchütjter Intereffen und infolgedeffen auch mit geringen dies
bezüglichen Entfcbädigungsverpflicbhingen verknüpft zu fein.
Wenn unfer erftes Experiment geglückt ift, wird es nicht
febwierig fein, die erforderlichen öffentlich rechtlichen Befugniffe
zu erlangen, um Land zu erwerben und die nötigen Arbeiten
Schritt für Schritt durchzuführen. Die Graffcbaftsverwaltungen
ftreben jet)t febon nach weiterreichenden Befugniffen, und das
überbürdete Parlament ift mehr und mehr darauf bedacht, einen
Teil feiner Pflichten auf diefelben abzuwälzen. Es wäre richtig,
wenn man in der Erteilung folcher Befugniffe immer weit
herziger würde, wenn man den lokalen Behörden in immer
weiterem Maße Selbftverwaltung zugeftände. Alsdann wird alles,
was mein Diagramm veranfchaulicht, leicht durchführbar fein,
und fogar in viel vollkommenerer Weife, da künftige Pläne das
Ergebnis von gemeinfamer, auf Erfahrung beruhender Gedanken
arbeit fein werden. □
»Aber«, kann man hier einwenden, »Sie geben unumwunden
die große Gefahr zu, die den gefetjlicb berechtigten Intereffen
durch Ihren Plan droht; fürchten Sie nicht, dadurch diefe Inter
effen gegen fich in Waffen zu rufen und auf diefe Weife eine
Wandlung auf gefetjlicbem Wege unmöglich zu machen?« Ich
*) Siebe z. B. das Eingangskapitel von »The Heart of Midlotbian«
(Sir Walter Scott). C
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