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III.
WAS IST ARCHITEKTUR?
Eine Studie am amerikanischen Volk.
Von Louis H. Sullivan, Chicago,
Geschrieben 1906. In der tlberseizung gekürzt.
Der geistige Zug der Zeit geht auf Vereinfachung. Die volle
Kraft des modernen wissenschaftlichen Geistes ist jetzt mit allge
meiner Zusiimmung darauf gerichtet, die wenigen und einfachen
Gesetze herauszufinden, die der Vielfältigkeit der Natur zugrunde
liegen. Und ähnliche Untersuchungen enthüllen denn auch stets
gleichartige lelzle Triebkräfte bei allen Menschen und allen Dingen.
Diese Art der Analyse führt uns zu einer wichtigen Erkenntnis;
dag Denken und Handeln der Menschen sich decken. Der Mensch
handelt, wie er denkt; und umgekehrt kann man an seinen Taten
sehen, was er denkt — seine wirklichen Gedanken, wohlverstanden:
nicht, was er sagt, dag er denke. Alle Menschen denken, alle
Menschen handeln. Zu sagen, dag ein Mensch „nicht denkt“, ist
ein Migbrauch des Wortes. Man kann nur sagen, dag „er nicht mit
Genauigkeit, Folgerichtigkeit und Kraft denkt“. Wenn es nun wahr
ist, dag, so wie ein Mensch denkt, er auch handeln mug in unver
meidlicher Übereinstimmung mit seinen Gedanken, so ist es auch
wahr, dag die Gesellschaft, die nur eine Summe von Einzelpersonen
ist, genau so handelt, wie sie denkt.
In aller Vergangenheit und in der Gegenwart steht jedes Bau
werk als eine soziale Tat da, in der die Gedanken des einzelnen
Architekten erkennbar, und zugleich — gut oder schlecht — die
Gedanken seines Volkes zum Ausdruck gebracht sind.
Die Architektur hat drei elementare Denkformen, den Pfeiler,
den Querbalken und den Bogen. Sie sind die drei Typen, aus denen
sich die Baukunst als eine Sprache entwickelt hat, in der der Mensch
durch Generationen den wechselnden Zug seiner Baugedanken zum
Ausdruck gebracht hat. Die römischen Aquädukte und die mittel
alterlichen Kathedralen bestehen beide aus Pfeilern und Bögen;
aber wie weit war der Weg vom römischen zum mittelalterlichen Ge
danken, von Macht und Streitbarkeit zu mystischer Sehnsuchil