Charakter heißt Allgemeines einer Gruppe gesehen im Einzelnen, so wie Ein
zelnes gesehen als Ausdruck allgemeiner Eigenschaften einer ganzen Gruppe. So
wie man den Charakter eines Menschen mit der körperlichen Konstitution einer
ganzen Gruppe von Menschen in Verbindung sah, so ist der dargestellte Charakter
Ausdruck einer bestimmten Menschenart im Extrem.
Die Kunstgattung der Charakterisierung oder Charakterstudie ist freilich nicht
bloß ein Ergebnis der heutigen Situation, sondern hat eine Fülle von Vorbildern
aus früheren Abschnitten der Geschichte der Kunst. Nicht nur Illustratoren wie
Daumier gehören hierher, oder die charakterisierenden Studien von Callot,
sondern auch eine große Reihe von scharf erfassenden Zeichnungen Rembrandts,
wie Studien von Leonardo da Vinci.
Für die heutige Kunstsituation ist aber diese, merkwürdigerweise oft am Rande
stehende Möglichkeit des Ausdrucks so besonders wichtig, da sich derzeit die
beiden großen Extreme Naturalismus und Expression so entschieden gegen
überstehen wie nie zuvor. Die Malerei scheint völlig der Expression, ja sogar der
Abstraktion ergeben zu sein. Der Naturalismus aber wird von einer technischen
Bildproduktion vertreten, die immer mehr den Anspruch für sich erhebt, zur
Kunst gerechnet zu werden: der Fotografie.
Wir alle leben dauernd zwischen diesen beiden Polen. Die Charakterisierung
menschlicher Vorgänge aber kann von beiden nie voll erfaßt werden. Wie der
Expressionismus zu subjektiv darstellt und sich dadurch vom Gegenständlichen
entfernt, ist die Fotografie zu objektiv und kann in jene Tiefen nie eindringen, in
die die Charakterstudie gelangt.
Jeder Naturalismus, ganz besonders der der Fotografie und des Filmes will
objektiv das Gesehene wiedergeben. Jede Expression dagegen will die eigene
Reaktion auf das Gesehene zum Ausdruck bringen. Wo aber bleibt die Schil
derung der inneren Vorgänge des Gesehenen, die Wesenszüge menschlicher
Handlungen aufzeigt in menschlich allgemein verständlicher und zugänglicher
Art? Dieses darzustellen unternimmt die Charakterisierung, die diesem Wesen
gerecht zu werden versucht. Jede Einzelheit, jede Person ist in ihr stellvertretend
für eine Art menschlicher Überlegungen und menschlichen Verhaltens und damit
für einen dramatischen Vorgang. Darum wird diese Kunstform stets mit der
Literatur und hier im besonderen mit dem Drama und der Novelle verbunden
bleiben. Von der griechischen Tragödie bis zu den Erzählungen unserer Tage
sieht die Literatur ihre Aufgabe im Aufzeigen allgemeingültiger Vorgänge an
einzelnen Schicksalen. Sie erweist, daß das Ganze unserer Welt in jedem Teil
voll und ganz enthalten ist und sich in diesen manifestiert.
Oskar Zimmermann wird diesem Problem im Bild gerecht; seine Studien geben
den einmal erkannten Charakter gesehener Vorgänge in Häusern, Bäumen und
Menschen, die er zeichnet, wieder.
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