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Volltext: Oskar Zimmermann, Gedächtnisausstellung

Charakter heißt Allgemeines einer Gruppe gesehen im Einzelnen, so wie Ein 
zelnes gesehen als Ausdruck allgemeiner Eigenschaften einer ganzen Gruppe. So 
wie man den Charakter eines Menschen mit der körperlichen Konstitution einer 
ganzen Gruppe von Menschen in Verbindung sah, so ist der dargestellte Charakter 
Ausdruck einer bestimmten Menschenart im Extrem. 
Die Kunstgattung der Charakterisierung oder Charakterstudie ist freilich nicht 
bloß ein Ergebnis der heutigen Situation, sondern hat eine Fülle von Vorbildern 
aus früheren Abschnitten der Geschichte der Kunst. Nicht nur Illustratoren wie 
Daumier gehören hierher, oder die charakterisierenden Studien von Callot, 
sondern auch eine große Reihe von scharf erfassenden Zeichnungen Rembrandts, 
wie Studien von Leonardo da Vinci. 
Für die heutige Kunstsituation ist aber diese, merkwürdigerweise oft am Rande 
stehende Möglichkeit des Ausdrucks so besonders wichtig, da sich derzeit die 
beiden großen Extreme Naturalismus und Expression so entschieden gegen 
überstehen wie nie zuvor. Die Malerei scheint völlig der Expression, ja sogar der 
Abstraktion ergeben zu sein. Der Naturalismus aber wird von einer technischen 
Bildproduktion vertreten, die immer mehr den Anspruch für sich erhebt, zur 
Kunst gerechnet zu werden: der Fotografie. 
Wir alle leben dauernd zwischen diesen beiden Polen. Die Charakterisierung 
menschlicher Vorgänge aber kann von beiden nie voll erfaßt werden. Wie der 
Expressionismus zu subjektiv darstellt und sich dadurch vom Gegenständlichen 
entfernt, ist die Fotografie zu objektiv und kann in jene Tiefen nie eindringen, in 
die die Charakterstudie gelangt. 
Jeder Naturalismus, ganz besonders der der Fotografie und des Filmes will 
objektiv das Gesehene wiedergeben. Jede Expression dagegen will die eigene 
Reaktion auf das Gesehene zum Ausdruck bringen. Wo aber bleibt die Schil 
derung der inneren Vorgänge des Gesehenen, die Wesenszüge menschlicher 
Handlungen aufzeigt in menschlich allgemein verständlicher und zugänglicher 
Art? Dieses darzustellen unternimmt die Charakterisierung, die diesem Wesen 
gerecht zu werden versucht. Jede Einzelheit, jede Person ist in ihr stellvertretend 
für eine Art menschlicher Überlegungen und menschlichen Verhaltens und damit 
für einen dramatischen Vorgang. Darum wird diese Kunstform stets mit der 
Literatur und hier im besonderen mit dem Drama und der Novelle verbunden 
bleiben. Von der griechischen Tragödie bis zu den Erzählungen unserer Tage 
sieht die Literatur ihre Aufgabe im Aufzeigen allgemeingültiger Vorgänge an 
einzelnen Schicksalen. Sie erweist, daß das Ganze unserer Welt in jedem Teil 
voll und ganz enthalten ist und sich in diesen manifestiert. 
Oskar Zimmermann wird diesem Problem im Bild gerecht; seine Studien geben 
den einmal erkannten Charakter gesehener Vorgänge in Häusern, Bäumen und 
Menschen, die er zeichnet, wieder. 
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