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Volltext: Das gewerbliche Unterrichtswesen (Gruppe XXVI, Section 4), officieller Ausstellungs-Bericht

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Armand Freiherr von Dumreicher. 
aufgefchwungen ; aber fchon tauchen die erften Zweifel auf, ob fie die Herrfchaft 
über fich felbft zu bewahren vermögen, und ob ihre Gefellfchaft nicht von der 
unerhörten Umwälzung in den Produktionsverhältniffen der Zerfetzung und Zer 
rüttung entgegengeführt wird. 
So gibt eine Entwicklung, deren Samenkorn, Keimkraft und Wachsthum 
in den Naturwiffenfchaften liegt, heute den Staatswiffenfchaften neue Probleme 
zur Löfung. Und die Staatskunft der Gegenwart hat, indem fie die grofse Frage 
zu klaren trachtet, dem gewerblichen Unterrichtswefen ihr Intereffe zugewendet 
und den Staatsorganen ein neues, bisher nur von anderen Intereffenten unvoll 
kommen gepflegtes Verwaltungsgebiet zugewiefen. Für jene Organe ein fchwie- 
riges Verwaltungsgebiet; darum fo fchwierig, weil ihnen hier die Traditionen 
mangeln. 
Denn der Staat war Jahrzehnte lang mit feiner Unterrichtsadminiftration 
hinter den wirthfchaftlichen und focialen Ereigniffen zurückgeblieben. Nachdem 
er bereits in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhundertes die Leitung oder 
Beeinfluffung der alten Gelehrtenfchulen als feine Aufgabe erkannt und zugleich 
der Verbreitung elementarer Bildung in den Volksmaffen feine organifatorifche 
Kraft zugewandt, nachdem er fodann auch dem erfolgreicheren Betriebe und der 
erweiterten Anwendung derErfahrungswiffenfchaften durch Gründung einer neuen 
Art von Hochfchulen Rechnung getragen, und in Folge deffen fpäter auch die 
Bifurcation der Mittelfchule durchgeführt hatte, fchien ihm das Gebäude abge- 
fchloffen, fein Beruf erfüllt, fein ftaatspädagogifches Geflaltungsvermögen 
erfchöpft. 
Indeffen waren aber neue Bedürfniffe grofs gewachfen, welche er im 
Anfänge ignoriren und deren Befriedigung er allenfalls privater Strebfamkeit über- 
laffen zu können glaubte. Doch ftets weiter und weiter fchob das fortfchreitende 
Leben diefe Bedürfniffe in den Vordergrund, und immer zweifellofer drängte fleh 
die Erkenntnifs auf, in wie hohem Mafse die Lücke im Unterrichtsfyfteme 
allgemeine Intereffen gefährdet. 
Schon feit den erften Decennien unferes Jahrhundertes fing auf dem euro- 
päifchen Feftlande jene für Staat und Gefellfchaft bedeutfame Veränderung in der 
Produktion fich zu bilden an: die Arbeit auf Verkauf begann ftatt der Arbeit auf 
Beftellung fich einzubürgern, die Erzeugung für den localen Markt ftrebte dem 
Weltmärkte zu, die Theilung der Arbeit vollzog fich allmälig in- mehr und mehr 
gewerblichen Zweigen, neue Erfindungen vereinfachten und erhöhten den indu- 
ftriellen Betrieb, gröfsere Unternehmer benützten die billigfte Arbeitskraft, die 
Mafchine, und bemächtigten fich des ausfchlaggebenden Einfluffes auf Einkaufs- 
wie Verkaufspreife. Auch Kaufs- und Fabriksherren fanden fodann ihren Meifter 
in mit unerhört grofsen Mitteln arbeitenden Aktienunternehmungen. Die Oeko- 
nomie der continentalen Länder trat in die Epoche der Capitalsherrfchaft ein. 
Das fociale Ergebnifs diefer Entwicklung ift ein neuer Stand, der 
A r b e i t e rft and. Neue Elemente und Mitglieder der ehemals zünftigen Gewerbe 
bilden ihn; er umfafst ländliche Volksbeftandtheile, welche in letzterer Zeit den 
Fabriken zugeftrömt find, aber auch alte bürgerliche Kreife, Handwerks-Gehilfen 
und Kleingewerbetreibende , welche eine gefellfchaftliche capitis deminutio 
erlitten haben. 
Mit der Entftehung eines neuen Standes find dem Staate auch neue 
Pflichten erwachfen, deren Erkenntnifs er näher und näher kommt, je fchärfer 
das Claffenbewufstfein in den Arbeitern fich auszuprägen und eine breite und 
ftarke Volksfchichte von den übrigen Staatsgenoffen zu ifoliren beginnt. Diefe 
Pflicht befteht für ihn um fo gewiffer, als er, dringenden Anforderungen des 
Zeitalters entfprechend, dem Gewerbsmanne ein Jahrhunderte altes, hiftorifch 
gewordenes Recht genommen hat, ein Privilegium, welches in Form von 
Innungs- und Zunftgefetzen ftarken-Schutz gewährt hatte. In edlerer Geftalt kann 
der Staat nunmehr eine Entfchädigung hiefiir nicht fchaft'en, als indem er dem von
	        
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