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Armand Freiherr von Dumreicher.
aufgefchwungen ; aber fchon tauchen die erften Zweifel auf, ob fie die Herrfchaft
über fich felbft zu bewahren vermögen, und ob ihre Gefellfchaft nicht von der
unerhörten Umwälzung in den Produktionsverhältniffen der Zerfetzung und Zer
rüttung entgegengeführt wird.
So gibt eine Entwicklung, deren Samenkorn, Keimkraft und Wachsthum
in den Naturwiffenfchaften liegt, heute den Staatswiffenfchaften neue Probleme
zur Löfung. Und die Staatskunft der Gegenwart hat, indem fie die grofse Frage
zu klaren trachtet, dem gewerblichen Unterrichtswefen ihr Intereffe zugewendet
und den Staatsorganen ein neues, bisher nur von anderen Intereffenten unvoll
kommen gepflegtes Verwaltungsgebiet zugewiefen. Für jene Organe ein fchwie-
riges Verwaltungsgebiet; darum fo fchwierig, weil ihnen hier die Traditionen
mangeln.
Denn der Staat war Jahrzehnte lang mit feiner Unterrichtsadminiftration
hinter den wirthfchaftlichen und focialen Ereigniffen zurückgeblieben. Nachdem
er bereits in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhundertes die Leitung oder
Beeinfluffung der alten Gelehrtenfchulen als feine Aufgabe erkannt und zugleich
der Verbreitung elementarer Bildung in den Volksmaffen feine organifatorifche
Kraft zugewandt, nachdem er fodann auch dem erfolgreicheren Betriebe und der
erweiterten Anwendung derErfahrungswiffenfchaften durch Gründung einer neuen
Art von Hochfchulen Rechnung getragen, und in Folge deffen fpäter auch die
Bifurcation der Mittelfchule durchgeführt hatte, fchien ihm das Gebäude abge-
fchloffen, fein Beruf erfüllt, fein ftaatspädagogifches Geflaltungsvermögen
erfchöpft.
Indeffen waren aber neue Bedürfniffe grofs gewachfen, welche er im
Anfänge ignoriren und deren Befriedigung er allenfalls privater Strebfamkeit über-
laffen zu können glaubte. Doch ftets weiter und weiter fchob das fortfchreitende
Leben diefe Bedürfniffe in den Vordergrund, und immer zweifellofer drängte fleh
die Erkenntnifs auf, in wie hohem Mafse die Lücke im Unterrichtsfyfteme
allgemeine Intereffen gefährdet.
Schon feit den erften Decennien unferes Jahrhundertes fing auf dem euro-
päifchen Feftlande jene für Staat und Gefellfchaft bedeutfame Veränderung in der
Produktion fich zu bilden an: die Arbeit auf Verkauf begann ftatt der Arbeit auf
Beftellung fich einzubürgern, die Erzeugung für den localen Markt ftrebte dem
Weltmärkte zu, die Theilung der Arbeit vollzog fich allmälig in- mehr und mehr
gewerblichen Zweigen, neue Erfindungen vereinfachten und erhöhten den indu-
ftriellen Betrieb, gröfsere Unternehmer benützten die billigfte Arbeitskraft, die
Mafchine, und bemächtigten fich des ausfchlaggebenden Einfluffes auf Einkaufs-
wie Verkaufspreife. Auch Kaufs- und Fabriksherren fanden fodann ihren Meifter
in mit unerhört grofsen Mitteln arbeitenden Aktienunternehmungen. Die Oeko-
nomie der continentalen Länder trat in die Epoche der Capitalsherrfchaft ein.
Das fociale Ergebnifs diefer Entwicklung ift ein neuer Stand, der
A r b e i t e rft and. Neue Elemente und Mitglieder der ehemals zünftigen Gewerbe
bilden ihn; er umfafst ländliche Volksbeftandtheile, welche in letzterer Zeit den
Fabriken zugeftrömt find, aber auch alte bürgerliche Kreife, Handwerks-Gehilfen
und Kleingewerbetreibende , welche eine gefellfchaftliche capitis deminutio
erlitten haben.
Mit der Entftehung eines neuen Standes find dem Staate auch neue
Pflichten erwachfen, deren Erkenntnifs er näher und näher kommt, je fchärfer
das Claffenbewufstfein in den Arbeitern fich auszuprägen und eine breite und
ftarke Volksfchichte von den übrigen Staatsgenoffen zu ifoliren beginnt. Diefe
Pflicht befteht für ihn um fo gewiffer, als er, dringenden Anforderungen des
Zeitalters entfprechend, dem Gewerbsmanne ein Jahrhunderte altes, hiftorifch
gewordenes Recht genommen hat, ein Privilegium, welches in Form von
Innungs- und Zunftgefetzen ftarken-Schutz gewährt hatte. In edlerer Geftalt kann
der Staat nunmehr eine Entfchädigung hiefiir nicht fchaft'en, als indem er dem von