Rufsland.
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Erörterungen den mit unferen ausführlicher entwickelten Anfichten vollftändig
harmonirenden Auslaifungen eines durchaus unparteiifchen Engländers*), welcher
durch lange Jahre in Rufsland gelebt und mit dem Scharfblicke eines praktifchen
Gefchäftsmannes die Verhältniffe ftudirt und beurtheilt hat.
Es ift unvermeidlich, dafs, wo fich eine grofse Reform vollzieht, fich bei der
AusführungIrrthümer mit einfchleichen, und auch die Emancipation ift diefem allge
meinen Gefetze nicht entgangen. Galt es hiebei doch, den widerfprechendften
Intereffen gerecht zu werden, und die Meinungen über die Mittel, welche ange
wendet werden müfsten, um weder den Herren, noch den Leibeigenen zu nahe zu
treten, waren fehr getheilt. Freilich fchwieg mit der Durchführung des Gefetzes
die Oppofition dagegen noch lange nicht, und es find vornehmlich die Grundbefitzer,
welche den immer fühlbarer werdenden Mangel an ländlichen Arbeitskräften
ausfchliefslich auf die Aufhebung der Leibeigenfchaft zurückführen. Es ift aller
dings Thatfache, dafs in manchen Theilen des Reiches dem Ackerbau zu gewiffen
Epochen, namentlich zurZeit der Beftellung und der Ernte, die Arme fehlen; aber
damit ift die Emancipation noch lange nicht zu verurtheilen. Ohne behaupten zu
wollen, dafs die Seltenheit der Arbeitskräfte für den Gutsherrn ein Vortheil fei,
geht doch daraus hervor, dafs der Bauer von feiner Freilaffung unmittelbar Nutzen
zu ziehen verftanden hat, denn er weifs auf feinem eigenen Grund und Boden aus
reichende Befchäftigung zu finden. Denn ein Müfsiggänger ift der ruffifche Bauer
nicht. In keinem Lande trifft man fo wenige Bettler als eben in Rufsland. Wohl
gibt es deren in den grofsen Städten wie in allen anderen gröfseren Städten Weft-
europas, aber fie find hier profeffionell, das heifst, fie bitten um Naturalgaben,
welche fie alsdann verkaufen. Die Haupturfache des Mangels an Arbeitskräften
liegt (wie wir diefs an anderer Stelle begründet haben) in der immer gröfser werden
den Ausdehnung des Bodens, welcher der Cultur übergeben wird. Die Emancipation
der Leibeigenen hat viele Grundbefitzer ungeheurer Einkünfte beraubt, die ihnen
aus demObrok Hoffen, der perfönlichen Abgabe eines Leibeigenen für die Erlaubnifs-
irgend ein Gewerbe auf eigene Hand betreiben zu dürfen. Sie haben naturgemäfs nun
ihrem Grund und Boden eine gröfsere Aufmerkfamkeit zugewendet und fuchen dem-
felben einen möglich!! reichen Ertrag abzugewinnen. Wenn fie nun über den Mangel
an Arbeitskräften fchreien und klagen, und dafs die Emancipation fie ruinirt habe, fo
ift das nicht richtig ; der wahre Grund liegt in der Schwierigkeit, eine ausreichende
Zahl von Armen für den Anbau von Landftrichen zu finden,die bis dahin brachgelegen
hatten und keiner Arbeit bedurften. So lange man nicht Mafsregeln ergreift, um eine
fortdauernde Emigration zwifchen den Provinzen, wo Arbeitskräfte im Ueberjlufsund
denen, wo folche nur fpärlich vorhanden find, zu vermitteln, wird es in Rufsland
immer an Armen fehlen. Es fteht feft, dafs der Ruffe, fo viel auch über feinen Hang
zum Nomadenleben gefagt und gefchrieben worden ift, fich doch fehr fchwer zum
Auswandern entfchliefst. Erverabfcheut dasVerändern feines Domicils, und Niemand
klebt fefter an der Scholle als der Bauer. Der emancipirte Leibeigene hat das Gefühl
feiner Freiheit; er begreift die Vortheile feiner neuen Stellung und fieht allmälig
ein, dafs er es nicht nöthig hat, anderswo Arbeit zu fuchen, dafs fein Grund und
Boden zu feiner Ernährung ausreicht. Die Eifenbahnen machen es ihm möglich,
feine Produfte theuerer zu verkaufen ; die Reifen erweitern feinen Gefichtskreis,
entwickeln feine Intelligenz und lehren ihn, den gröfstmöglichen Vortheil aus
feiner Arbeit zu ziehen; er wird mit der Zeit ganz unabhängig und braucht nicht
mehr für Andere zu arbeiten. Aus alledem geht hervor, dafs die Taglöhner immer
feltener werden miiffen, wenn man nicht die Bevölkerung durch Zuzug zu ver-
gröfsern trachtet. Natürlicherweife wird damit eine Erhöhung der Löhne Hand
in Hand gehen ; fchon jetzt find diefelben in den Städten beträchtlich höher als
auf dem Lande, und je leichter die Communication wird, um defto höher wird der
Taglohn des Arbeiters fteigen. Immerhin ift von einem wirklichen fühlbaren
') Barry, „Das neue Rufsland", 1873, S, 40 u. ff.