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Wilhelm von Lindheim.
Mangel an Arbeitskräften in Rufsland bis jetzt nur vereinzelt die Rede ; ein Beweis
dafür ift, dafs der Werth der Güter von Tag zu Tag fteigt, und zwar in den guten
Diftridlen in ganz enormer Weife. Land, welches vor einigen Jahren per Defsjätine
für io Rubel verkauft wurde, findet jetzt zu 70 Rubel Käufer, fo dafs die Befitzer
jetzt viel mehr Geld aus ihrem Grund und Boden ziehen, als vor der Emancipation.
Welchen Urfachen diefs zunächit zuzufchreiben ift, das ändert an der Thatfache
felbft nichts. Ganz unzweideutige Zeichen des Fortfehrittes treten bei den Bauern
allgemach zu Tage. In allen Dörfern find neue Häufer gebaut und die alten
reparirt worden; die Felder find beffer eingehegt, die Höfe gröfser ; an vielen
Häufern dei ehemaligen Leibeigenen lieht man die Schilder von Verficherungs-
gefellfchaften angebracht. Die Pferde find weit häufiger befchlagen und die
Wagenräder meiftens mit eifernen Reifen verfehen. In den Häufern hat der
Kienfpan, welcher fonft die Beleuchtung bildete, dem Talglichte Platz gemacht
Männer und Frauen gehen weit beffer gekleidet, fuchen fielt zu unterrichten, willen,
dafs fie unter dem Schutze des Gefetzes liehen und haben ein richtigeres Ver-
ftändnifs für die Vorgänge in den Städten. Die Männer fangen an, Gewerbe zu
treiben; fie werden Müller, Gärber, Schiffer, Vieh- und Getreidehändler;, fie
bedienen fich bereits der Mafchinen, um den Hanf zu brechen und das Getreide
zu drefchen; fie behandeln ihre Frauen mit gröfserer Achtung und leben feltener
in wilder Ehe als früher. So find all’ diefe Fortfehritte, welche keinem Reifenden
entgehen können, vollwichtige Beweife für eine fich vollziehende grofsartige
Umgeftaltung des Bauernftandes, und angefichts derfelben wird man den Erfolg
der Emancipation nicht in Abrede zu ftellen vermögen. Der ganze Staatsorganis
mus profitirt von diefer gewaltigen Veränderung. Aus den Hörigen find Männer
geworden, welche fich ihrer Freiheiten und Rechte, wie ihrer Pflichten als Staats
bürger bewufst find. Diefer ungeheure Fortfehritt fichert unter den europäifchen
Staaten Rufsland den Rang, der ihm feiner Gröfse, feiner Kraft und feinem Reich-
thume nach gebührt. Alle Vorbedingungen zu einer herrlichen Entwicklung find
gegeben; Handel und Gewerbe blühen auf; die innere Sicherheit ift im Zunehmen
begriffen und das Anfehen, fowie die Macht der Regierung gefeftigt. Es ift etwas
Anderes, über Leibeigene, etwas Anderes, über freie Männer zu herrfchen, und
vor dem Sclaven, wenn er die Kette bricht, hat Rufsland zu feinem Heile fortan
nicht mehr zu erzittern nöthig.
Die Loskaufsoperationen gemäfs den Beftimmungen der
Emancipationsadte.
Um die Bauernemancipation und die damit verbundene Uebertragung von
Grundbefitz an die Bauern möglich!! zu fördern, verftand fich die Regierung
dazu, den Bauern die Mittel vorzuftrecken, um die Ländereien, welche die Guts
herren ihnen abtreten follten, käuflich erwerben zu können. Es handelte fich
dabei um ganz gewaltige Summen, und um fo gröfseres Lob verdient die ruffifche
Regierung, dafs fie neben ihren anderen Verpflichtungen nun auch diefe neue
grofse Bürde auf fich nahm, um ein wahrhaft humanes Werk zu fördern. Sie
ftellte zu diefem Behufe drei verfchiedene Arten von Obligationen aus, mit denen
die Forderungen der Gutsherren befriedigt wurden, nämlich fünfpercentige
kaiferliche Bankbillets, ferner fünfpercentige Kauffcheine, die in drei Terminen
von refpedfive 5, 10 und 15 Jahren, jedesmal von einem Drittel, gegen Bank
billets umzutaufchen find, und endlich fünfeinhalbpercentige Kauffcheine ohne
die Beftimmung jener Einlöfung. Ueberdiefs übernahm die Regierung von zahl
reichen Gutsherren die Verpflichtungen derfelben bei den früheren Creditinftituten.
Der Stand der Loskaufsoperationen von derZeit der Eröffnung derfelben,
dem 24. November 1866, bis zum 1. November 1872 war nach amtlichen Mitthei
lungen folgender :