Die Sculptur.
19
Nie hat fich die Sculptur in Frankreich von der Induftrie fo fehr abgefon-
dert, wie es in Deutfchland bis in die jüngfte Zeit der Fall ift; der ftete Contakt
war beiden Th eilen nur von weitgehendftem Nutzen ; einerfeits fanden Talente
reichliche Befchäftigung und blieben kunftgeübte Hände nie brach liegen, und
andererfeits gelangte durch das Heranziehen künftlerifcher Kräfte eine Anzahl
Kunftgewerbe (vorzugsweife die Broncefabrication) in der Welt zur dominirenden
Stellung, was dem Lande Ruhm und Geld eintrug. Diefes Faktum wurde auch
von den verfchiedenen Regierungen in Frankreich bis zur Gegenwart ftets wohl
im Auge behalten und der Kunft von Seite des Staates reiche Unterftützung
geboten. Was auf der einen Seite ausgegeben wurde, flofs ja auf der anderen
reichlich!! wieder zurück ; und welchen Werth auch die gegenwärtige Regierung
auf die Künfte legt, zeigte wohl deutlich die Ausheilung: kein Land war in der
Sculptur fo reich und glänzend vertreten wie Frankreich, und zumeift ging die
Expofition der Objekte auf Koften des Staates, denn nahe zwei Dritttheile des
Ausgeftellten trugen im Kataloge den eingeklammerten Satz „appartient a l’etat“.
Es mufste für uns Deutfche befchämend fein, auf dem Wahlplatze der Arbeit in
einem fo erhabenen Kunftzweige Frankreich gegenüber fo armfelig vertreten zu
fein, wo es doch von früher her bekannt war, worin die Stärke diefes Landes
hauptfächlich befteht, und wodurch es gröfstentheils zu feinem Wohlftande kam.
Freilich haben die Franzofen in Bezug auf Entwicklung derTalente den Vortheil,
dafs fie weniger Bildhauerprofefforen haben, aber defto mehr fleifsige und
befchäftigte Meifter; der Kunfteleve hat nicht das Gute, was ihn die Mutter
Natur mitgegeben hat, in feinen Lehrjahren verfteckt zu halten — er wählt feine
Meifter nach deren Schöpfungen und erzieht fich felbft nach den feinem Individuell
zufagenden Vorbildern.
Die franzöfifche Ausftellung bot, wie in der Malerei, fo auch in der
Sculptur keineswegs viel Neues (das aus den letzten fechs Jahren datirte), fon-
dern umfafste die Produktion von nahezu zwei Decennien. Ging hierin alfo die
Commiffion über das aufgeftellte Programm hinaus, fo durfte ihr darob wohl
keineswegs ein Vorwurf gemacht werden; denn auch andere Staaten reprä-
fentirten einen weiteren Zeitraum der Kunftthätigkeit als den von der letzten
Ausftellung an, und weifs wohl alle Welt, was für Paufen in den vergangenen vier
Jahren die Ereigniffe in Frankreich in die Kunftthätigkeit und Induftrie gefetzt
haben, fo dafs das Vorführen von älteren Arbeiten als gerechtfertigt erfchei-
nen mag.
Da es, wie berührt, in Frankreich gegenwärtig weit weniger als in Deutfch
land ausgefprochene Schulen in der Plaftik gibt und mehr aus dem Ueberein
ftimmen der Individualität der Künftler eine Majorität in Betreff beftimmter
Charakteriftiken fich bildet, fo dürfte es wohl gleichgiltig fein, in welcher Folge
wir die Befprechung der hervorragendften Objekte nehmen; es ift vorzuziehen,
hierin die Topographie der Ausftellung in der Kunfthalle zu berückfichtigen, um
das Gedächtnifs des freundlichen Lefers in unferer Rundfchau nicht durch fprung-
weifes Herausheben der einzelnen Werke zu ermüden.
Wir beginnen denn unfere Wanderung vom Achmed-Brunnen aus nach
dem Haupt-Mittelfaal, wenden uns durch die franzöfifche Abtheilung zum Nord
portale und kehren durch die weltlich gelegenen Seitenfäle zum Haupt-(Weft-)
Eingänge wieder zurück.
Zunächft begegnet uns C. Bourgeois’ „Pythia auf dem Dreifufs“. Das wahr-
fugende Weib war pompös aufgefafst, im Momente der höchften Ekftafe ; vielleicht,
wie uns Plutarch einen Fall fchildert, in einer Aufregung, die durch die nerven
reizenden Dämpfe fogar den Tod der Priefterin herbeiführte. Die Linke fährt in
das reich herabwallende Haar, die Rechte hebt fich prophetifch empor; die ver
zerrten Augen, der geöffnete Mund, die fliegenden Draperien geben der Geftalt
etwas Furienhaftes, mehr Bewufstes, als dafs darin der eigentlich krankhafte
Zuftand gefchildert würde. Die Formenbehandlung lehnte fich an die Canova’s.