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Volltext: Textil- und Bekleidungs-Industrie, Wiener Weltausstellung Heft 5

614 Gruppe V. Textil- und Bekleidungs-Industrie. 
Eine zweite Eigentümlichkeit unserer Tracht besteht in der 
Verschiebung des Verhältnisses, in welchem der Stoff aus dem sie ge 
fertigt ist und die Form in die er gebracht wird, zu einander stehen. 
Während im Alterthume das Gewebe so wie es der Webstuhl lieferte 
durch Anbringung einfacher Heftel, Spangen, eines Gürtels und ähnlicher 
zum Festhalten dienender Gegenstände zur Kleidung geeignet wurde 
und auf dem Körper selbst durch geschmackvolles Drapiren und Tragen 
das der Figur entsprechende Arrangement empfing, ein Verfahren, wel 
ches bei den unserer Cultur ferner stehenden Völkern noch heute vor 
zugsweise geübt wird, — lässt der Europäer in seiner Gewandung den 
Stoff selbst zurücktreten, gegenüber dem Arrangement, welches er ihm 
verleiht. Die Kunst des Webers verschwindet vor der des Schneiders 
und Modisten. Einfache unscheinbare Stoffe werden durch phantastische 
oft widernatürliche Zusammensetzung, durch Verbrämung mit Spitzen, 
1 osamentierwaaren und Aehnlichem zu einem „modernen“ Costüm ver 
arbeitet: während die Tracht des Orientalen duröh Verwendung fär 
ben- und formenschöner Gewebe zu glänzen sucht. 
Dieses unser Verfahren bildet ein trauriges Zeichen unserer Zeit: 
der Sinn für harmonische Farben und schöne Zeichnungen wird mehr 
und mehr abgestumpft. Unsere Kunstweberei, welcher ihr bedeutend 
stes Gebiet: die Herstellung der Bekleidungsstoffe geraubt wird und 
die nur noch eng begrenzte Zweige zur Cultivirung übrig behält, liegt 
im Argen; unser Auge, das hauptsächlich einfachein düsteren unschein 
baren Farben gehaltene Stoffe vor sich sieht, verliert den Sinn für die 
Schönheit der Form und Farbe und wird für diese Vorzüge auch auf 
anderen Gebieten unempfänglich. Die mangelnde Einwirkung des Indi 
viduums endlich auf das Tragen und Arrangement seiner Kleidung 
stumpft unser plastisches Gefühl, unsere Grazie, entschieden ab. 
Besonders reichhaltig und das Angeführte bestätigend waren die 
nationalen I rächten europäischer Gegenden sowie die Gewänder orien 
talischer \ ölker vertreten, welche als in Gruppe XXL gehörig hier nicht 
zur Besprechung kommen. 
Es beschäftigt uns vielmehr die Ausstellung moderner europäischer 
Kleidungsstücke, welche kein sonderliches Interesse darbot. Ganz be 
sonders war dies der Fall bei der 
weiblichen Tracht. 
Dieselbe war ausserordentlich spärlich vertreten. Der Grund die 
ser Erscheinung liegt wohl hauptsächlich darin, dass gerade hier die 
Mode mit sich überstürzender Schnelle arbeitet, kaum Erzeugtes wie 
der verwirft und stets neuere „Nouveautes“ zu schaffen sucht. Es 
würden daher die bei Eröffnung der Ausstellung eingelieferten moder-
	        
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