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die keineswegs Alles umfaßte, was im kunstgeschichtlichen Interesse hätte ausgestellt
werden sollen.
Mancherlei alte Reisebeschreibungen, die Tagebücher und Aufzeichnungen fremder
Reisenden wissen des Rühmens kein Ende, wie hoch das Leben entwickelt gewesen, wie
prächtig die Paläste und Kirchen, die Säulenhallen und Gärten, auch die Feste an den
Königshöfen der Anjous, sowie später Sigismunds und zuletzt König Matthias des
Gerechten. Wie ein Märchen klingt all das angesichts der Öde, welche jetzt die Königs
burg zu Visegräd umgibt, oder der dem vorigen Jahrhundert entstammten Steinprosa,
die sich ans der Stätte des „frischen" (neuen) Palastes zu Ofen breit macht. Jndeß, das
Gedächtniß der längst verschollenen Herrlichkeit ist durch glaubwürdige Bücher bezeugt.
Wir meinen nicht die Berichte der Chronisten, sondern, als handgreiflichere Beweise, die
wenigen Überreste der Ofner Bibliothek des Königs Matthias, diese unvergleichlich
prächtigen Pergamentcodices der Corvina, die, von den besten Künstlern der italienischen
Renaissance mit feinen Miniaturen geschmückt, gleichfalls bezeugen, daß ihr Sammler
wirklich jener weise und mächtige, elastisch gebildete und über seine Zeit hinansgewachsene
Fürst war, an dessen glänzenden Hof die Fürsten des Westens ihre Söhne schickten, um
sie ritterlichen Geist und Anstand lernen zu lasten. Der Schatz, den der kunstliebende
König an Bildern, Statuen und Luxusgegenständen jeder Art in der Ofener Burg
gesammelt hatte, ist spurlos dahin, zum unberechenbaren Vertust der nationalen Cultur-
geschichte. Nach Matthias' Tode und der Schlacht bei Mohäcs folgte ein verhängnißvoller
Niedergang des öffentlichen Lebens und 145 Jahre türkischer Unterjochung erstickten den
nationalen Fortschritt im Feuer und Blut, znm Ruin selbst jener Landestheile, die den
Verwüstungen der fanatischen Eroberer entgangen waren. In den oberen Comitaten, wo
das türkische Schwert nicht hinreichte, in den durch gewerbfleißige ausländische Colonisten
zu einiger Blüte gelangten Städten und deren Umgebung finden sich noch jetzt die meisten
Kunstdenkmüler, nach denen die Cultur des Landes bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts
sich beurtheilen läßt, aber auch dort riß der Faden dieser Entwicklung in dem Nacheinander
von dynastischen Kämpfen und Bürgerkriegen alsbald ab und es folgten neue Jahrhunderte
des Stillstandes.
Und auch in diesen Gegenden ist fast nichts unbeschädigt erhalten. Alles mußte von
Grund aus erneuert werden, vom Kaschaner Dom, diesem in Ungarn einzig dastehenden
Meisterwerk des gothischen Stils angefangen bis zu dein alten Dorfkirchlein, dessen
ursprüngliche interessante Form man in der Regel aus der Verballhornung durch allerlei
späteren Umbau herausbuchstabiren muß. Auch vom Typus der mittelalterlichen Wand
malereien Ungarns hätte man keinen Begriff, wären nicht durch Zufall an der Wand
einer alten Kirche in diesem oder jenem unbedeutenden Dörfchen unter der abgekratzten