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KARL MOLLS: „BEETHOVEN-HÄUSER" iwv
VON HARTWIG FISCHEL-WIEN S0
IE Liebe zur Natur und die Empfänglichkeit für jene
Erscheinungswelt, welche uns umgibt, sind die
Grundlagen aller bildenden Kunst. Aber das
Verhältnis des Einzelnen zu dem, was ihm von
seiner Umgebung einen tieferen Eindruck hinter-
läßt, ist von unendlich mannigfaltiger Art. Das
„Sehen"können ist durchaus keine Fähigkeit,
die allen in gleichem Maße gegeben, die ohne
Pflege und Kultur schon durch die angebornen
Kräfte allein verbürgt ist. Hierin die Führer der
Menschheit zu sein, gehört zu den höchsten Auf-
gaben bildender Künstler und hierin der eigenen Unvollkommenheit bewußt
zu werden, ist eine der wesentlichen Vorbedingungen, welche im Kunst-
freund die erforderliche Andacht zur Kunstbetrachtung wecken. Alles Genießen,
ist zugleich ein Erinnern und ein Lernen. Und in dem Maße, als ein Kunst-
werk die suggestive Kraft besitzt, verborgene Schätze unserer Erinnerungs-
welt zu wecken, mit neuen Elementen unseren Vorrat an Eindrücken zu
bereichern, wird es für uns an Wert und Bedeutung gewinnen. Daraus ergibt
sich schon von selbst, daß ebenso und mehr das „wie" als das „was" in jeder
künstlerischen Darbietung bedeutungsvoll bleibt.
In ihrem abgegrenzten Arbeitsfeld erfüllen die graphischen Künste einen
wichtigen Teil dieser Aufgaben.
Ihre Schöpfungen gehen von Hand zu Hand, wirken durch die Buch-
seite und an der Wand; wenden sich daher an die weitesten Kreise, an das
größte Publikum. Diesem Umstand und der Beweglichkeit und Mannig-
faltigkeit ihrer Hilfsmittel verdanken sie auch das erhöhte Interesse, das die
moderne Kunst ihnen zugewendet hat. Ganz besonders auf dem Gebiet des
I-Iolzschnitts haben sich ihr neue Möglichkeiten erschlossen, neue Wege ge-
zeigt, seit die vornehmen Schöpfungen japanischer Kunst in Europa weitere
Verbreitung fanden. Die Farbenholzschnitte aus dem fernen Osten haben
ein Werk der Befreiung vollbracht und die europäische Holzschnittechnik
aus jener Sklaverei erlöst, in welche sie um die Mitte und zu Ende des
XIX.]ahrhunderts geraten war.
Wenn wir zuerst die prächtigen Flugblätter und Buchseiten der
frühesten Druckwerke betrachten, in denen einst auch die Typen der Lettern
aus dem Holzstock geschnitten waren und wo die kraftvollen breit und einfach
behandelten Illustrationen so gut in das Gesamtbild der Buchseite stimmen,
so erfüllt uns der hohe Stand dieser alten Kunstübung mit aufrichtiger
Bewunderung. Dieselbe Zeit, welche noch in der geschriebenen Buchseite
mit ihrem Miniaturenschmuck die größte Zartheit, Glätte und Feinheit der
Behandlung entwickelte, wußte aus dem Holzstock die lapidare Breite einer
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