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Der Bey richtet gewöhnlich alle Bechtssachen von leichter
Lösung, ob civil oder verbrecherisch, in summarischer Weise; die
jenigen, welche mehr oder weniger schwierig sind, werden von dem
Bey an den Sciarah gesandt, um nach dem strengen Rechte und
durch eine formelle Gerichtsverordnung erledigt zu werden. Alle
Klagen, welche sich auf Nachlassenschaften beziehen, oder auf
Heirathen, auf Minderjährigkeiten, auf Vormundschaft, Erbschafts-
theilungen, auf Familiengüter (Fidei-commis) und religiöse Institute,
sind den geistlichen Richtern und dem Sciarah Vorbehalten.
In Strafsachen gibt es keine öffentliche Klage als für das Räuber
wesen. In allen anderen Fällen, selbst bei Todschlag, gebührt die
Klage dem Beschädigten oder seinen directen Nachfolgern, welche,
in jedem Streitfälle, mit dem Delinquenten sich vergleichen, sowie
ihm auch ohne Bedingungen verzeihen können; und dieses genügt,
um den Angeklagten von jeder Strafe freizusprechen.
Es ist übrigens noch zu bemerken, dass, wenn das Vergleichen
oder die Verzeihung vor der Verurtheilung stattfindet, der Angeklagte
ganz frei bleibt; geschieht dieses aber erst nach der Verurthei
lung, so ist diese von Rechtswegen nichtig, und der Angeklagte hat
nur eine zeitweilige Gefängnissstrafe auszustehen, zur Befriedigung
der Gesellschaft, je nach dem Willen der Civil-Behörde, was man im
arabischen als politische Strafe bezeichnet.
Die Rechtsangelegenheiten der Europäer gegen Muselmänner
kommen vor den Bey oder den Statthalter, und die der Einheimischen
gegen die Europäer kommen ebenfalls zuerst vor den Bey, welcher sie
nach vorangegangenem Urtheilsspruch an die betreffenden Consulate
zurückweisen kann, mit der Aufforderung, Gerechtigkeit auszuüben.
Wenn es sich um Handelsangelegenheiten handelt, so hat der
Tunisier, ob Kläger oder Geklagter, in Folge eines Artikels des
Vertrages von 1830, welcher zwischen Frankreich und Tunis ab
geschlossen wurde, das Recht, eine Commission einberufen zu lassen,
die aus zwei europäischen und zwei muselmännischen Handelsleuten
besteht, wovon die zwei letzten den angesehensten Bürgern ange
hören, unter dem Präsidium des Amin, d. h. des Oberhauptes der
angesehensten Bürger.