Reflexionen.
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beutet werden, wenn dasselbe politisch und finanziell endlich in eine
geordnete Bahn eintreten könnte. Es ist ein Irrthum, wenn man glaubt,
Oesterreich habe kein Geld. Leider standen die disponiblen Gapitalien
des Landes bis jetzt fast ausschliesslich im Dienste der Spekulation und
der Börse; der legitime Handel, der keine so hohe Zinsen in Aussicht
stellen konnte, musste darben. Beim letzten Krach fielen in Wien die
Börsenwerthe in Zeit von 6 Wochen um volle zwei Milliarden Franken. Es
gibt diess einen annähernden Begriff von den Unsummen, welche dem
Börsenspiele zur Verfügung standen. Man hofft, die erhaltene Lehre
werde der Industrie dadurch zu Gute kommen, dass in Zukunft das
Capital der Industrie mehr Aufmerksamkeit schenken werde, als es bis
anhin geschehen ist. Der österreichische Fabrikant ist technisch tüchtig
gebildet und würde alle Requisiten besitzen, um auch bei bedeutend
ermässigten Zollschranken seinen Platz vollkommen zu behaupten.
Das industrielle Leben in Italien ist am Aufwachen.
Italien war bis in die letzten Jahre Hauptkäufer für schweize
rische Baumwoll-, Leinen- und Halbwollwaaren; es macht aber grosse
Anstrengungen um sich zu emancipiren und hat durch die Goncentration
grosser Capitalien und durch billige Arbeitslöhne schon einen grossen
Theil des inländischen Bedarfes an sich gerissen. Die Ausstellung zeigte,
dass seine Industrie in sehr tüchtigen Händen liegt, und dass nichts ge
spart wird, um die Fabrikate mit dem Besten, was das Ausland liefert,
concurrenzfähig zu machen.
Die Schweiz ist zwischen den letzterwähnten vier Grossstaaten
eingekeilt; ihre natürliche Lage ist eine höchst ungünstige; sie hat keine
Metalle, keine Kohlen, wenig und darum theures Holz, keine Canäle oder
schiffbaren Flüsse, keinen Anschluss an’s Meer; ihr Ackerbau genügt blos
zur Ernährung der Hälfte der Einwohner und sind desshalb alle Lebens
mittel theuer.
Noch grössere Nachtheile für die Entwicklung der Grossindustrie
bieten aber die sie wie eine Mauer umgebenden Zollschranken und
der unbedeutende Absatz im eigenen Lande. Während die vorerwähnten
Länder 20, 30 und 40 Millionen Einwohner zählen, deren Bedürfnisse
genügen um schon eine grossartige Industrie zu alimentiren, zählt die
Schweiz blos 2 V» Millionen Einwohner, von denen ein grosser Theil in
äusserster Einfachheit lebt und sehr wenig consumirt, so dass es einzelne
Städte gibt, wie London, Paris, New-York, welche viel mehr consumiren
als die ganze Schweiz.
Die Schweiz hat alle diese Hindernisse durch Fleiss, Ausdauer,
Sparsamkeit, Genügsamkeit, praktischen Sinn, Beförderung der Schulbil
dung, Sammlung der disponibeln Capitalien in Banken zu Gunsten der
Industrie überwunden. Anstatt der Kohlen benützte man die Gebirgs-
wasser und Flüsse als Triebkraft: durch ausgezeichnete Schulen wurde
das Volk zu Arbeiten befähigt, wo die Intelligenz des Einzelnen mass-