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Gruppe XXV. Die bildenden Künste der Gegenwart.
lichung der Leidenschaft in der Form des Melodramas, die Wiedergabe
der Antike wesentlich nur nach ihrer privaten, man möchte sagen
intimen Seite, die freiwillig bewusste Einschränkung der Landschafts
malerei auf Licht- und Lufteffecte, die im engsten Raume mit besonde
rer Vorliebe belauscht werden, das wären nach den Resultaten der
zweiten Pariser Ausstellung die Aufgaben der französischen Kunst.
Nur der grosse Nachdruck, der auf das Colorit gelegt wird, hängt mit
früheren Bestrebungen zusammen, obgleich auch hier die Zielpunkte
einen grossen Wechsel erfahren haben und Delacroix z. B. von ande
ren Grundsätzen in seinen Farbenstudien ausging als die Mehrzahl der
späteren Coloristen; in allem Uebrigen finden die künstlerischen Ueber-
Heferungen nur geringe Beachtung. Ein solcher Bruch kann nur durch
die Veränderungen, welche die socialen Zustände erfahren haben,
erklärt werden. Es überraschte aber nicht allein die neue Wendung
der französischen Kunst, auch in ihrem Verhältniss zur deutschen Kunst
war eine unerwartete Aenderung eingetreten.
Noch 1855 konnten beide Kunstweisen als unabhängig von ein
ander, beide in ihrer Art gleichberechtigt gelten. Wir Hessen es nicht
am Lobe und Preise der grossen französischen Maler fehlen, wir glaub
ten aber nicht an die Möglichkeit der Uebertragung ihrer Kunst in
unsere Kreise und stiessen auf die gleiche Ueberzeugung bei allen
fachkundigen Franzosen, die ihrerseits namentlich die Bedeutung von
Cornelius willig anerkannten. Bei der zweiten Pariser Ausstellung
zeigte sich das Uebergewicht entschiedener auf der Seite der fran
zösischen Kunst. Wir waren unsicher und ungewiss geworden, hatten
nicht mehr das volle Vertrauen zu der bisher herrschenden Kunstrich
tung und zur eigenen Kraft und entdeckten in der französischen Ma
lerei eine Reihe von Zügen, die unbedingt nachahmungswerth erschie
nen. Die internationale Ausstellung in München 1869 bestätigte diese
Wahrnehmungen. Selbst extreme Richtungen der französischen Kunst,
z. B. der sogenannte Realismus Courhet’s, die ungeschlachte Derb
heit Dore’s haben hier grossen Beifall gefunden und nicht mehr spo
radisch, sondern weit verbreitet war bei unserem jungen Künstler
geschlecht das eifrig nachgeahmte französische Vorbild zu erspähen.
Mit dem Zustande der Kunst vor einem halben Menschenalter vergli
chen gewahrte man jetzt eine grössere Annäherung der einzelnen natio
nalen Kunstweisen, dadurch bewirkt, dass die französische Kunst weit
über ihren unmittelbaren Schauplatz hinaus eine mächtige Anziehungs
kraft bewährte. Auf diese Ereignisse haben offenbar die Weltausstel
lungen den grössten Einfluss geübt. Ohne die auf ihnen gebotene
Möglichkeit, die einzelnen Kunstweisen zu vergleichen und abzuwägen,
wäre es gewiss noch hei der alten Absonderung geblieben. In sofern
muss man die Weltausstellungen als einen wirksamen Factor in der
Entwickelung der modernen Kunst anerkennen. Ob auch die Wiener