Gruppe XXY. Die bildenden Künste der Gegenwart. 7
Weltausstellung als Gradmesser derselben dienen kann, in welcher Weise
sie das Bild der gegenwärtigen Kunst wiederspiegelt, wie sich auf der
selben die Kunstweisen der verschiedenen Nationen zu einander verhal
ten, welche herrschende Richtungen bemerkbar werden und wie diese
zu den älteren Kunsttraditionen stehen — dieses Alles darzulegen ist
die Aufgabe des folgenden Berichtes.
Zunächst gilt es den Boden kennen zu lernen, in welchem die
Werke der Wiener Weltausstellung wurzeln, in den wichtigsten Zügen das
gegenwärtige Kunstlebfen zu charakterisiren. Weit entfernt von Sta
bilität und von folgerechtem Innehalten des einmal eingeschlagenen
Weges hat dasselbe im Laufe eines Menschenalters die mannigfachsten
Wandlungen erfahren, und wiederholt in allen Zweigen neue Bahnen
eingeschlagen. Wir begegnen auf dem Gebiete der Architektur zu
erst der unbestrittenen Herrschaft des antiken oder antikisirenden Stiles.
In der nüchternen Zeit der Zopfarchitektur hatten die einzelnen Bau
formen das ursprüngliche Gepräge vollständig verloren, ihre Wahrheit
und in demselben Maasse ihre Schönheit eingebüsst. Das Ziel der
denkenden Künstler war, seitdem diese Mängel erkannt waren, auf die
Wiederbelebung der Bauformen gerichtet, indem sie theils auf die grie
chischen Muster mit grösserem Ernst zurückgingen, theils die Gesammt-
anlage als einen Organismus auffassten, in welchem jedem Gliede eine
bestimmte Function zukommt, die auch in der decorativen Form zum
Ausdrucke gelangen muss. Nirgends hat dieses Streben so grossartige
Erfolge erreicht, nirgends ist die Architektur so rasch wieder zu einem
kräftigen Leben emporgestiegen, wie in Deutschland. Es wäre über
flüssig, Schinkel’s epochemachendes Wirken zu schildern und hervor
zuheben, wie sehr ihn dabei unsere dem classischen 'Alterthume innig
zugewandte Bildung stützte. Der griechische Baugeist hätte uns
nicht so heimathlich angeweht, wenn nicht der hellenische Genius über
haupt in Poesie und Wissenschaft uns so nahe getreten wäre. Doch
auch in Frankreich und England hielt die von der Antike angeregte
Architektur ihre Herrschaft aufrecht, bis ihr seit dem Beginn des vier
ten Jahrzehntes unseres Jahrhunderts in den mittelalterlichen Bauweisen,
namentlich im gothischen Stile überall ein starker Mitbewerber erstand.
Gar zu nahe lag die Erwägung, dass für eine der wichtigsten Gattun
gen von Bauten, für die Kirchen, die hellenische Architektur das natür
liche Formengerüste nicht biete, dieses vielmehr in den Bauweisen des
Mittelalters gefunden werde. Unser ästhetisches Empfinden ist dem
Eklekticismus überhaupt nicht abgeneigt, und findet die Forderung,
für jede Gattung von Bauwerken das ihr entsprechende Formensystem
auszuwählen logisch begründet. Auch das allmälig gesteigerte natio
nale Bewusstsein sprach für die Wiederaufnahme eines Stiles, welcher
im Schoosse unseres Volksthums geboren wurde. Aber nicht allein als
Kirchenbaustil wurde die. Gothik eifrig empfohlen, auch in der Profan-
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