8 Gruppe XXV. Die bildenden Künste der Gegenwart.
architektur sollte dieselbe die Alleinherrschaft antreten. Ihr Sieg wäre
vielleicht unbestritten geblieben, wenn die Stimmung, welche nach dem
gewaltsamen Zusammenbruche der Volksbewegung 1848 waltete, sich
dauernd erhalten hätte. In weiten Kreisen wurde die Mahnung ver
nommen, im Angesicht der zerrütteten öffentlichen Zustände und der
entfesselten Leidenschaften die Stützen der alten moralischen Ordnung
zu stärken. Das kirchliche Bewusstsein erhob sich zu einer Macht,
welche die früheren Menschenalter nicht gekannt hatten, und machte
seinen Einfluss auch auf Gebieten geltend, welche vordem sich von
demselben unabhängig gestellt hatten. Dadurch stieg auch das Inter
esse an dem gothischen Stile. Während ihm anfangs romantischer
Sinn und nationale Begeisterung vorzugsweise das Wort sprachen, war
nun auch kirchlicher Eifer für seine Verbreitung bemüht, da in ihm
der innigste Bund der künstlerischen Phantasie mit der christlichen
Empfindung gefeiert wurde.
Doch auch den mittelalterlichen Bauweisen gelang es nicht, eine
vorherrschende Stellung in der Gegenwart zu wahren. Vielfach be
rührte es peinlich, dass der Agitation für die Gothik ein polemisches
Element sich beimischte und die classische Grundlage unserer Bildung
von den Verfechtern des mittelalterlichen Kunstideals ohne Grund und
ohne Recht feindlich angegriffen wurde. Den Ausschlag gab jedoch
die Ueberzeugung von der eng begrenzten Wirkungskraft des gothi
schen Stiles. Kein anderer Baustil hält das Ornament in so festen
Banden und knüpft es so unbedingt an die eigenthümliche Construc-
tionsweise an, so dass es gleichsam nur als Schema derselben erscheint,
als der gothische Stil. Selbstständig gestellt, nicht von einer gross
artigen Construction getragen, Wird das gothische Ornament leicht
monoton. Bei der grossen Rolle, welche das decorative Element in
unserer Profanarchitektur spielt, war es begreiflich, dass die mit rei
cher Phantasie begabten Künstler sich von der Gothik abwendeten und
eine grössere Vorliebe für jenen Stil zeigten, welcher ihnen in dieser
Hinsicht einen freien Spielraum lässt, der mit der Richtung der ande
ren bildenden Künste und namentlich auch mit der Richtung unserer
Kunstindustrie in vollem Einklang steht und die meisten Aufgaben
der modernen Baukunst leicht und gut zu lösen gestattet. Das ist die
Renaissance, die zwar niemals völlig ausser Acht gelassen wurde,
doch erst im letzten Jahrzehnt eine nicht bloss unbestrittene, sondern
geradezu begeisterte Aufnahme fand. Wie dieselbe in der Kunstfor
schung heutzutage vorzugsweise gepflegt wird, so wenden sich ihr auch
in der Kunstpraxis die hervorragendsten Künstler zu. Freilich ist
innerhalb der Grenzen des wieder angenommenen Renaissancestiles ein
unruhiges Schwanken bemerkbar. Die effectvollen Formen des 17.
Jahrhunderts werden häufiger angewendet als jene des Cinquecento,
bis hart an das Rococo streifen einzelne Architekten an, der franzö-