10 Gruppp XXV. Die bildenden Künste der Gegenwart.
das Hereinziehen selbst pathologischer Zustände in die sonst so ruhige
plastische Welt erscheint nicht mehr verboten. Demgemäss ändert sich
auch die plastische Technik und eignet sich Mittel an, an welche frü
her nicht gedacht wurde, sie entwickelt namentlich nach der Seite der
malerischen Effecte eine staunenswerthe Virtuosität. Alle diese Vor
gänge beobachtet man nicht allein in der französischen Kunst. Die
Italiener, immer tüchtige Marmorarbeiter, sind in den letzten Jahrzehn
ten neben den Franzosen in den Vordergrund getreten und haben in
der oben erwähnten naturalistisch-malerischen Richtung bis jetzt den
weitesten Weg zurückgelegt. Eine so grosse Rührigkeit sich auf dem Ge
biete der Plastik in den letzten Jahrzehnten zeigt, so erscheint sie doch
nahezu wie ein Stillstehen, verglichen mit den stürmischen Bewegungen
in der modernen Malerei. Hier steht das Sonst dem Jetzt am schroff
sten und am wenigsten vermittelt gegenüber. Die Veränderung ist zu
gross, als dass sie allein auf die Wandelbarkeit künstlerischer Laune
oder auf Ursachen, welche innerhalb des Kunstbetriebes liegen, zurück
geführt werden könnte. Mit der Erklärung, die nothwendige und natür
liche Entwickelung der Malerei habe diesen scharfen Wechsel hervor
gerufen reicht man nicht aus, man muss vielmehr die socialen Verhält
nisse, die allgememeinen Zustände des modernen Lebens mit zu Hülfe
nehmen, hier die Gründe des plötzlichen Wechsels unserer künstlerischen
Anschauungen erforschen.
Man kann von einem regem modernen Kunstleben eigentlich
erst seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts reden. Gleich
zeitig erhob sich in Deutschland und Frankreich die Malerei zu nicht
geringer Bedeutung. Namentlich in Deutschland war die Kunstpflege
bei der grossen Verarmung des Volkes beinahe ausschliesslich in den
Händen einzelner kunstsinniger Fürsten, und auch in Frankreich war
die Unterstützung, welche die Malerei besonders durch die Juliregie
rung genoss, von beträchtlichem Umfange. Der Kunsterwerb durch
Private trat dagegen in den Hintergrund. Dieser Umstand übte auf
den Charakter der Kunstwerke einen wesentlichen Einfluss. Die Male
rei wurde in der Regel als Schmuck der Architektur aufgefasst, mit
dieser verbunden und als eine monumentale Kunst behandelt. In den
letzten Jahrzehnten dagegen sind, Dank dem weitverbreiteten Reich-
thume Private, reiche Kunstliebhaber und Sammler, auch Händler —
das Wort: Kunstmarkt wurde vor dreissig Jahren nur selten vernom
men — die thätigsten Kunstförderer geworden. Wenn der Staat noch
als Mäcen auftritt, so geschieht es als Sammler, um einzelne hervorra
gende Werke öffentlichen Galerien cinzuverleiben, ohne dass die Rich
tung der Kunst dadurch, wie es früher der Fall war, irgendwie be
stimmt würde. So ist es geschehen, dass die monumentale Malerei
sich in Cabinetsmalerei verwandelte. Die Folgen dieser Aenderung
trafen sowohl die Gegenstände wie die Form der Darstellung. Der
religiösen und historischen Malerei wurde der Lebensfaden beinahe