Gruppe XXV. Die bildenden Künste der Gegenwart. 19
Gebrauche der malerischen Formen beschlossen wäre, so besässe die
französische Kunst unbestritten den ersten Rang, und zeigte sich noch
immer im Fortschreiten begriffen. Man erkennt den Segen einer lan
gen Kunsttradition und den günstigen Einfluss, den das gesicherte An
sehen der Kunst auf die Wirksamkeit des Einzelnen übt. Man darf
aber auch nicht die Vortheile übersehen, welche die in Frankreich
übliche Künstlererziehung gewählt. Fast alle hervorragenden Künst
ler der letzten Generation haben Ateliers errichtet, in welchen Schüler
unterrichtet werden. Ganz abgesehen von der bessern Ueberwachung
(nicht in Bezug auf die Moral der Jünglinge, sondern ihre künstlerischen
Fortschritte) und der unmittelbaren persönlichen Einwirkung wird hier
der junge Künstler geraden Weges in die Praxis eingeführt und mit
allen Mitteln und Wegen, welche die Kunstübung fördert, vertraut
gemacht. Seine Erziehung dauert ziemlich lange, erst nach vieljähri
gem Studium geht er an ein selbstständiges Schaffen; er wählt sich
nicht das grosse Publicum zum Theilnehmer seiner ersten, befangenen
Versuche, sondern wartet, bis er wenigstens in einer Richtung eine voll
ständige Sicherheit des Auftretens erreicht hat. Statistische Erhebun
gen sind meines Wissens nicht darüber angestellt worden, in welchem
Lebensalter französische Künstler durchschnittlich den Salon zum ersten
Male beschicken. Sie würden wahrscheinlich ergeben, dass dieses ver-
hältnissmässig später geschieht, als z. B. in Deutschland.
Mit dieser Form der französischen Künstlererziehung hängt es zu
sammen, dass auf die malerische Behandlung das Hauptgewicht gelegt
und der zur Schilderung gewählte Gegenstand nur in so weit vom
Künstler genauer erwogen wird, als er Gelegenheit giebt, Probleme der
Farbentechnik zu lösen. Dennoch wäre es ein grosser Irrthum, zu
meinen, dass der Gegenstand der Darstellung völlig gleichgültig sei.
Der Beschauer, wenn er nicht einem ausgewählten Kreise künstleri
scher Feinschmecker angehört, sieht nicht bloss malerische Formen, son
dern mit ihnen unauflöslich verknüpft auch einen Inhalt des Bildes,
den er zu verstehen sich bemüht. In den meisten Fällen wird er zu
erst nach dem Was und dann erst nach dem Wie der Darstellung fragen.
Und selbst die Künstler, wenn sie sich auch meist von technischen
Interessen bei der Wahl des Gegenstandes leiten lassen, zeigen doch
eine deutliche Vorliebe für den einen, eine Abneigung gegen den an
dern Gestalteukreis, ohne dass die malerische Brauchbarkeit derselben
den Ausschlag dabei gebe. Man kann z. B. nicht behaupten, dass
biblische Scenen weniger malerisch wären, als Schilderungen aus dem
profanen orientalischen Leben , Bilder aus der modernen Gesellschaft
farbenreicher als Darstellungen aus den vergangenen Jahrhunderten.
Die Frage nach dem Verhältnisse des Inhaltes zur Form der Dar
stellung tauchte in den letzten Jahrzehnten wiederholt auf, ohne dass
eine befriedigende Lösung bis jetzt wäre gefunden worden. Es gab
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