Gruppe XXV. Die bildenden Künste der Gegenwart. 35
können. Die Praktiker haben sich emancipirt und liefern gegen
wärtig Werke, welche nur durch die virtuose Behandlung des Materials
bedeutsam sind. Ehemals begnügten sich Reisende als Andenken an
ihren Aufenthalt in Italien die stereotypen Costümbilder und Veduten,
welche die Malerindustrie in Rom und Neapel fabricirte, mitzunehmen.
An ihre Stelle sind nun Marmorwerke getreten, die ebenso fabriks-
mässig für den Export hergestellt werden. In vielen Ateliers ist die
vollständigste Theilung der Arbeit durchgeführt. Die Figur oder Gruppe,
deren Inhalt meistens dem gewöhnlichen Tagesleben entlehnt ist, geht
durch zahlreiche Hände durch, ehe sie fertig in den Handel kommt.
Der eine Gehilfe macht nur die nackten Theile des Rumpfes, der andere
die Köpfe, der dritte, vierte u. s. w. die Haare, die Gewänder, das Bei
werk u. s. w. Dadurch wird eine Vollendung des Einzelnen erzielt,
die dem Laien das grösste Staunen abzwingt. Dünne Schleier, über
den Kopf und Hals geworfen, können nicht naturwahrer gebildet wer
den, den Bruch, den Glanz und den Spiegel der Kleiderstoffe, das Weiche
und Quellende des Fleisches würde kein Maler frappanter wiedergeben.
Hat man aber die Technik bewundert und was Alles aus dem harten
Marmor gezaubert werden könne, überrascht wahrgenommen, so bleibt
nichts mehr übrig, was einen tieferen Eindruck erregt. Diese Marmor
industrie, von welcher die Ausstellung zahlreiche Proben zeigt, würde
hier nicht erwähnt werden, wenn nicht ihr offenbarer Einfluss auf die
italienische Plastik zahlreiche Bedenken wach riefe. Der wenig be
schränkte Realismus schöpft seine reichste Nahrung aus der Geschick
lichkeit der italienischen Marmorarbeiter, welchen auch die feinste
Detaillirung des Ausdruckes und der Bewegung gelingt. Die lebens-.
grosse Statue „Jenner, am eigenen Kinde die Impfung versuchend“
von Monteverde in Rom ist das hervorragendste Werk dieser Rich
tung. (Vela, dessen Napoleonsstatue in Paris 1807 so grosses Auf
sehen erregte, hat nicht ausgestellt.) Vorgebeugt sitzt der alte Doetor
Jenner, das Kind auf seinem Schoosse halb zwischen seine Knie ge
presst; die mit der Lanzette bewaffnete Rechte sucht die Stelle, wo der
Impfstoff am besten eingeritzt werden kann, während die andere
Hand den Arm des ungeberdigen Knaben straff hält und zur Ruhe zwingt.
Die intensive Aufmerksamkeit des Arztes, die Widerwilligkeit des
Knaben kann kaum lebendiger geschildert werden, ebenso naturwahr
ist die Stellung und Bewegung der beiden Figuren, dabei das Nackte
des Knaben ebenso vortrefflich nach der Wirklichkeit reproducirt, wie
die Schuhe und Strümpfe des Vaters. Dieses Alles kann aber die
gründliche Hässlichkeit der Einzelformen nicht vergessen machen, die
um so zudringlicher auftritt, je sorgfältiger die Ausführung, je mäch-
Gger der Umfang des Werkes ist. Die Formenschönheit sehen wir
nicht allein als das Recht, sondern in noch höherem Maasse als die Pflicht
der Plastik an, und lassen uns von diesem Grundsätze auch nicht durch
Wiener Weltausstellung. 0