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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 3. Jahrgang 1906/07

KUNST UND ERZIEHUNG 
DER KNHBE UNSERER ZEIT UND DHS LEBEN 
RUF DEM LHNDE 
er befte Aufenthaltsort für einen Knaben ift die Mutter 
Erde, ob fie trocken oder naß ift oder in welchem Zuftand 
fie lieh fonft befindet. Je mehr er fich daran hält, ein um 
fo befferer, natürlicherer, aufrechterer und gefünderer Mann 
wird er zum Schluß. Sie lehrt ihn nichts Unrechtes, fie ift ftets 
offen und ehrlich, und wenn er fich an fie hält, muß er unaus= 
bleiblich ebenfo werden. Es ift Bubenart, die Mutter Erde zu 
lieben und fo viel als möglich aus ihr herauszubekommen. Die 
Spuren feiner innigen Beziehungen und feiner Intimität mit ihr, 
die er ftets an Geficht und Händen trägt und von denen er fich 
nur unter Anwendung von Zwang trennt, um fie fo bald als 
möglich wieder zu erneuern, find die heften Beweife dafür; 
Mütter mit großen Reinlichkeitsanfprüchen fühlen fich dadurch 
aber fehr aufgebracht. Ein Knabe, der fie nicht trägt und ftets 
gefchniegelt und reingewafchen ausfieht, ift eben kein rechter 
Knabe. Das beißt durchaus nicht, daß er fchmutjig fein foll. Es 
ift nur eine Tatfacbe, daß ein echter Knabe es beinahe immer 
ift und in keinem innigen Kontakt mit der Natur fein kann, ohne 
daß man es ihm anfiebt. □ 
Es gibt aber verfchiedene Arten Scbmut), Stadt» und Land» 
febmut}, natürlichen und künftlichen Scbmut), und diefe Abarten 
find grundverfebieden. Landfchmu^ ift das Refultat verfebiedener 
Tätigkeiten, eines Befuches im Stall, des Befteigens eines Baumes, 
um Apfel berunterzubolen oder des Grabens in der Erde, um 
zu einer koftbaren Wurzel zu gelangen. Dieter Scbmui) kann 
mit Seife und Waffer leicht entfernt werden. Der Stadtfehmut) 
läßt auf den Aufenthalt in der Straße, das Kauern auf dem 
Pflafter, das Kopf» und Adlerfpielen, auf lauter anormale, ein» 
gefchränkte Tätigkeiten - Surrogate fcbließen. Der Stadtknabe 
ift alfo zu bedauern, wenn er mit dem Dorfjungen verglichen 
wird, befonders wenn man dabei an einen Dorfjungen vor 
einigen Jahrzehnten denkt, und man wünfeht dem Stadtkind 
einige diefer Freuden, die dem Dorfjungen in jenen Tagen zu 
teil wurden und auch jet)t erreichbar find, die aber durch den 
Fortfcbritt der fogenannten Zivilifation leider veraltet und un» 
modern geworden find. □ 
Die durch die moderne Kultur bervorgerufene, abfolute Tren» 
nung vom Boden, die beim Stadtknaben und immer mehr auch 
beim Dorfjungen, feit er fich nach der Stadt zu richten begonnen 
bat, an den Tag tritt, ift für die Kinder bedauerlich und muß 
bekämpft werden. Wieviele Knaben unterer Zeit können etwas 
fo Einfaches fertig bringen, wie es das Anfehirren eines Pferdes 
ift. Ihre Unvertrautbeit mit dem Pferd würde diefes fo er» 
fcbrecken, daß fie die Sache wohl fallen laffen müßten, und da» 
bei würden fie ficb auch felbft febr fürchten. □ 
Die Freundfcbaft mit Tieren ift an und für ficb eine Erziehung, 
und ein Knabe, der nicht Pferde, Hunde, Kaßen, Schweine, Hühner, 
den ganzen Viebbof und die Waldtiere, Hafen, Eichhörnchen, den 
Fuchs und die Wildkatje und alle, die um ihn herum find, gut 
kennt, ift nicht vollwertig. Es ift für einen Knaben nützlich, zu 
wiffen, daß er ein fo großes Tier, wie ein Pferd, durch feinen 
Willen meiftern kann. Ein Knabe, der nicht mit einem Hund 
befreundet ift, ift zu bemitleiden. Aber ein Hund, der an der 
Leine geführt wird, ift kein richtiger Kamerad. Er ift es nur 
dann, wenn man mit ihm durch Waldpfade gewandert ift und 
mit ihm zugleich jedes Geräufcb, jeden Geruch und jede Fußfpur 
unterfuebt bat. Ein Knabe lernt viel, wenn er fich fo an die 
Obren und die Nafe eines Hundes hält. Es ift auch jener Knabe 
zu bedauern, der das Ei eines Rotkehlchens nicht von dem eines 
Zaunkönigs oder ein Scbwalbenneft nicht von einem Amfelneft 
zu unterfebeiden vermag, und der den Ruf der Droffel und des 
Ziegenmelkers nicht auseinanderkennt. Leider gibt es viele Stadt» 
knaben, die das nicht verfteben oder die es nur aus »dem Natur» 
gefchichtsunterricht« in der Schule und aus Büchern wiffen. □ 
Das Landkind lernt aber direkt aus dem Buche der Natur 
und kennt alle Empfindungen eines Entdeckers, wenn es nach 
einem Sturm bei einem Baumftamm winzige blaugefprenkelte 
Eierfcbalen findet und fie nach Haufe zur Mutter bringt, die ihm 
fagt, es wären Rotkeblcbeneier und er könnte damit eine Vogel» 
eierfammlung beginnen. Er ift ein Freund der Bäume und 
kennt die Birne, die Buche, die Efche und die Efpe, die Eiche 
und die Ulme, und nicht weil er es gelernt bat, fie nach den im 
Buch abgebildeten Blättern im Park zu erkennen, fondern weil 
er mit Eichen und Ulmen zugleich aufgewachfen ift. □ 
Was ift mit dem Spaziergang zu vergleichen, den ein ganzer 
Kinderbaufen im Sommer am Samstag Morgen durch die Felder, 
wobei die Kornftoppeln um ihre nackten Füße fcblagen, zu den 
kleinen Wäldern und den Teichen bin unternimmt und es werden 
dort Wettfcbwimmen veranftaltet. Und dann die ftillen Morgen, 
die mit einer Angel in einer ruhigen Bucht beim Fifcben zuge» 
bracht werden. Diefe friedlichen in Gedanken verlebten Stunden 
find ein Gewinn, der dem Stadtkind in dem es umgebenden 
Lärm entgeht. Als Erfat) für diefe Freuden bietet die Stadt 
eine verblüffende Menge verfchiedener fogenannterVergnügungen, 
wie Theater, und zwar fo viele, daß keines davon einen tieferen 
Eindruck binterläßt und das einzige Refultat davon ift eine Zer» 
ftreutbeit und die Unfähigkeit, fich bei irgend etwas zu konzen» 
frieren. Von der Zeit an, wo ein modernes Stadtkind auf die Außen» 
weit zu reagieren vermag, bat es feine kleinen Hände ftets voller 
Spielzeug und von dem Tage an wird es von Eltern, Verwandten 
und Freunden des Kaufes mit Spielzeug förmlich überfchüttet. 
Ein Dorfkind begibt fich aber auf der Suche nach Zerftreu» 
ungen mit feinem Hund in den Wald, wobei feine entwickelte 
Beobachtungsgabe ihm neue Dinge entdecken läßt und fo feinen 
Gedanken neue Nahrung zufübrt. Das Stadtkind denkt aber, 
wenn es Langeweile fühlt, an ein in einer Auslage gefebenes 
neues Spielzeug und bettelt alle fo lange an, bis er es bekommt. 
Ein Knabe, der alles, was er wünfeht, bekommt, wenn er ficb 
nur das nötige Geld zufammengefuebt bat, kann nicht mit dem 
Knaben verglichen werden, der fo erfinderifcb ift, daß er ficb 
etwas aus Holz febnitjen kann, »das ebenfo gut ift«. Das natür» 
liehe Korrektiv diefer Unnatürlichkeit ift ein häufigerer Aufent» 
halt im Freien und ein einfacheres Leben in der Natur, das dem 
Knaben Kraft und Rückhalt verleibt und ihm Liebe für die vielen 
Dinge der Welt einflößt, als Erfat) für die in ihm immer mehr 
wachfende Bewunderung von Trödelwerk. □ 
Man verlangt von einem Knaben Charakter und nicht nur 
Verftand. Es ift nicht zu leugnen, daß die Kinder unferer Zeit 
klug find, fie find auch gefcbickt, ihnen ift eine Menge unnötiger 
Dinge vom Kindergarten aus bekannt. Das Spielzeug und die 
Befchäftigungen des einen bringen ihm einige Kenntniffe von 
Elektrizität bei, oder er verftebt mit der Bucbdruckerpreffe um» 
zugeben und eine kleine Zeichnung oder ein Modell anzufertigen, 
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