MAK

Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 3. Jahrgang 1906/07

Gefellfchaft hat kein Normalmaß der perfönlichen Bildung; fie 
lebt heute in völliger Abhängigkeit von England. □ 
Es gilt für Deutfcbland ebenfogut als für Holland; die Kon= 
fequenz davon liegt darin, daß hier Water clofet und Bade= 
einrichtung zu modernen Seltenheiten gerechnet werden. □ 
Es berührt uns faft heimatlich, zu hören, daß Sorgfalt in 
äußerer Erfcbeänung leicht das Mißtrauen der Mitbürgerfchaft 
erwecken kann. Die mittlere Gefcbäftswelt findet es daher nicht 
geraten, den Anforderungen der modernen europäifchen Kultur 
in perfönlichen Angelegenheiten offenkundig Folge zu leiften. 
Das Niveau der öffentlichen Umgangsformen empfängt von diefer 
Meinung die Prägung. □ 
Die Doelenftücke des XVI. und XVII. Jahrhunderts zeigen die 
Patrizier in der Pracht fpanifcher und italienifcher Koftüme mit 
Halskraufe und fpäter mit Spitzenkragen. Die Mynheers trugen 
die fremde Tracht zuerft aus Höflichkeit für die fpanifche Herr« 
fchaft, und folgten dann aus Proteft der Renaiffancemode, die 
in Gefchmacksfragen dem republikanifchen Geift der itatienifcben 
Kultur folgte. Aber fie trugen fie nie mit dem Anftand des 
Spaniers oder des Italieners der Renaiffance. Das gewiffe »Sich« 
gehen=laffen« ift ein Kulturmerkmal der Zeit, die in dem Schützen« 
und Regentenftücken verkörpert ift. Heute folgt die vornehme 
Welt dem Diktum der überlegenen englifchen Kultur. Der bürger« 
liehe Durchfchnitt hat von der hiftorifeben Überlieferung nichts 
behalten, als das »Sich=gehen=laffen«; formale Bildung gehört 
noch immer zu den Ausnahmen. □ 
Anders das Bauerntum. Es hat feine eigene Form, und hat 
niemals unter dem Einfluß des Auslandes oder der Mode ge- 
ftanden. Wenn Markttag in den Städten ift, gewinnt das Leben 
ein anderes Ausfehen. Die bürgerliche Stadtbevölkerung über 
ragt feiten die kleine Mittelgröße und leidet an ihrer Seßhaftig 
keit. Das Übermaß an Beleibtheit gereicht ihrer körperlichen 
Erfcheinung nicht zum Vorteil. Der Arbeiter, der Schiffer, der 
Bauer entbehrt diefer Anzeichen allzu großer Behaglichkeit. Der 
Typus der Bauernbevölkerung kann, was die Männer betrifft, 
geradezu febön bezeichnet werden. Ihre febwarze Kleidung mit 
febwarzen Kappen, im Verein mit gemeffenen Betragen, läßt fie 
feierlich und vornehm erfebeinen. Noch tragen die Bauersfrauen 
die alten, geftickten Häubdien und den goldenen Kopffcbmuck, 
wie in alter Zeit. Aber auch hier ift die Volkstracht im Ausfterben. 
Im Seeland, auf Marken und Urk ift fie noch erhalten; wer fie 
aber in aller Muße eingehend ftudieren will, kann es nirgends 
beffer tun, als im Germanifcben Mufeum in Nürnberg. □ 
KIRMES 
Von Zeit zu Zeit braucht der Überfcbuß an Temperament 
des Volkes ein Abzugsventil, der überfchäumende Lebensdrang 
beifebt fein Jabresfeft, nicht auf einen Tag, fondern auf eine 
Woche — früher waren es zwei Wochen — feftgefetjt, wo ein 
unbeforgtes, tolles Genießen keiner Schranke moralifchen Be 
denkens unterworfen ift und das Allzumenfchlicbe die Dämme 
niederreißen darf, die in der bürgerlichen Lebensordnung den 
Wogen des leidenfcbaftlicb erregten Blutes gefetjt find. Manche 
find, die aus der boebgebenden Flut fich nicht mehr in die Dämme 
des verebneten Stroms zurückfinden; ihr Leben feblägt fich durch 
Klippen, ihre tragifeben Akzente in der Raferei der Luft liefern 
Stoff dem Künftler, dem Dramatiker. Die Profa der febweren, 
niederen Alltagsarbeit braucht einen Raufch, der gründlich ift, die 
Börfen und Nerven erfdiöpft, und diefer Raufch ift die Kirmes. 
Praktifcb bat fie zwar die Bedeutung verloren, die ihr einft der 
Handel gegeben bat: hier fand der Bauer und Kleinbürger die 
fremden Produkte, die feinen Jabresbedarf deckten; heutzutage 
bat der Babnverkebr und die moderne Art der Warenverforgung 
diefe Form des Jahrmarktes ihres Vorwandes entkleidet. Die 
füße Übung, Kauf und Verkauf durch Schmaus und Trunk und 
fonftige Sinnengenüffe reichlich zu feiern, ift allein übrig geblieben; 
wie tief fie im Wefen und in den Überlieferungen des Volkes 
wurzeln, beweift, daß diefe Nebenfache als Hauptfache erhalten 
ift und eine pfycbifcbe Notwendigkeit des Volkes zu erfüllen 
bat. Trotzdem fie in der modernen Zeit durch mancherlei Ein- 
febränkung abgeblaßt bat, ift fie eine im Wefen unantaftbare In« 
ftitution, die dem ohnehin nicht einförmigen, bolländifchen Lebens 
bild noch eine befonders lebhafte Farbe auffe^t. Wie in allem 
entfeheidet hier nicht die Güte, fondern die Quantität des mate 
riellen Lebensgenuffes, es ift damit feit Jahrhunderten nicht anders 
geworden; Patrizier und Proletarier befinden fich in Überein- 
ftimmung. Die Regenten- und Scbützenftücke der Hals, Helft, 
Rembrandt und Nachfolger ftellen die Zeitgenoffen mit Vorliebe 
beim üppigen Mahl vor; die Unermüdlichkeit der Stillebenmaler 
in der liebevoll eingehenden Schilderung erlefener Feinfcbmecker» 
gerichte läßt außer des Malers Intereffe für den Reiz der far 
bigen Erfcheinung faftiger Fifchftücke, lukullifcber Frübftücke, 
überladener Tifche mit Feinfehmeckereien und koftbaren Gefäßen 
vermuten, daß die Kundfchaft es liebte, das künftlerifcbe Labfal 
des Auges mit der Erinnerung an die genoffenen oder genießens- 
werten Tafelfreuden zu verbinden; jedenfalls bilden die Werke, 
an das Auge des Gaumens gedenkt, ein hervorragendes Kapitel 
bolländifcber Kunft. Auch beute weiß der behäbige Bürger kein 
befferes Mittel, den Gaft zu ehren, als ein opulentes Mahl, das 
über die Magenkräfte des Fremdlings gebt. Die bolländifchen 
Genremaler fuchten das Volk beim Behagen des leiblichen Ge« 
nießens auf; die Oftade, Teniers, Jan Steen, Brouwer u. a. haben 
die Volksfeele in diefen auffchlußreichften Momenten aufgefpürt, 
und was an Humor oder Satire, an Galligkeit oder Moralität als 
des Künftlers Abficbt den Genrefzenen abgelefen werden mag, 
kann richtig fein oder nicht; unzweifelhaft richtig ift, daß des 
Künftlers Unabfichtlichkeit einen Zug des eigenen Wefens enthüllt; 
fein Volk ift er. Die Kirmesbilder find der Höhepunkt; das 
Leben ift merkwürdig konfervativ geblieben in den Dingen, die 
von den Sittenfcbilderern vor mehr als 300 Jahren feftgebalten 
wurden. Die äußere Form ift allerdings modern aufgeftu^t, wenn 
man obendrein den ftädtifeben Schauplatz der Kirmes ins Auge 
faßt; nur die Bauern in ihrer ernften febwarzen Tradot, die etwas 
Zeitlofes bat, und die Feierlichkeit alter Porträts, mit der die 
Bedächtigkeit ihres Wefen harmoniert, in den Alltag trägt, machen 
eine Ausnahme. Hier ift faft ein Widerfpruch mit den Kirmes 
bildern zu finden; mit dem ftädtifeben Element vermifcht, bilden 
fie einen ruhigeren Grundton; das ftädtifebe Volk ift es, deffen 
Ausgelaffenbeit keine Grenze kennt. Geräucherte Aale, Waffeln 
und Poffertjes, die frifebbereitet, mit Fettdunft die Budenftraßen 
erfüllen, gehören zu den nationalen Gerichten, ohne die es keine 
Kirmes gibt. Zwifchen den Buden mit Kraftmenfcben, Wunder 
kindern, lebendigen Bildern, blendenden Karuffels, mit Spiegeln, 
Gold und Weiß barock berausgepu^t, Kraftmeffern, Scbießftätten 
und amerikanifchen Tobogans ziehen, tanzend und fingend, Ketten 
von Mädchen, jungen Männern, Soldaten, Kinder der Dienftbar- 
keit, trunken von Spirituofen und dem ohrenbetäubenden Lärm 
kreifchender Mufiker, diefem wirkfamen Erreger der Exftafen. 
Nach acht Tagen nimmt das Leben wieder einen ruhigen Gang 
bei den Schiffen, in den Werkftätten, am Feuerherd der Haus 
küchen, ernüchtert und erleicbert. Über Nacht find die Buden- 
befitzer fort, mit gefülltem Beutel, um über einer Woche im 
näcbften Ort ihre bewegliche Stadt des gleißenden und lockenden 
Trugs für den Taumel einer Woche zu errichten. □ 
214
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.