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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 3. Jahrgang 1906/07

L.: HOLLÄNDISCHE REISESKIZZEN 
in. 
DIE LHNDSCHHFT 
ermeer van Delft bat feinen Landsleuten die bolländifcbe 
Fitmofpbäre fiabtbar gemacht; daß es faft drei Jahrhunderte 
brauchte, bis der Künftler zu feinem verdienten Hnfeben 
kam, beweift, daß der Alltag mit feinen bunderttaufend Augen 
nicht eines der Gebeimniffe der bolländifcben Landfcbaft zu feben 
gelernt bat. Hinter der Gewöhnlichkeit der felbftverftändlicben 
Dinge lauern die Wunder, die der Entdeckung harren und un= 
erfcböpfUcb find; die Myfterien, davon die Bilder der alten Nieder^ 
länder voll find, und deren zauberhafte Gegenwart fortwährend 
um unfer Dafein ift. Auf der Fahrt tauchen fie hinter den Wägern 
fenftern auf und finken vor den Blicken zurück, die leer und 
unempfindlich an ihnen abfallen. Zwar fagen alle Menfcben in 
der Eifenbabn, das Land fei fcbön, während es mit den grünen 
Flächen und den grafenden Tieren vorüberfliegt, und dann lehnen 
fie fich gelangweilt zurück, weil nichts anderes mehr kommen 
will als die Unendlichkeit derfelben grünen Flächen mit den 
grafenden Tieren, den Baumftricben und Wafferftreifen. — Allein 
die großen myfteriöfen Schönheiten liegen jenfeits der nüchternen 
Wahrnehmung, daß fcböne Weiden vor den Fenftern liegen. Die 
fcbeinbare Eintönigkeit ift reich belebt, wundervolle Erfcheinungen 
drängen einander, rätfelbaft und merkwürdig, und immer mehr, 
je weniger äußere Effekte die Natur der gewöhnlichen Schau» 
luft zu geben bat. Es ift allerdings ein ziemlich einfacher Auf» 
wand von landfcbaftlicben Mitteln, den die bolländifcbe Natur 
treibt, lange Wiefenflächen, regelmäßig und gradlinig von Waffer» 
adern umfäumt, Baumgruppen und Baumreihen mit hoben 
Wipfeln den Waffern entlang und am Horizont. Aber wie arm 
und blind müffen die Seelen fein, die immer nur diefe einfachen 
Elemente zu fpiegeln vermögen und nicht das vielverfchlungene 
Zufammenwirken von einem geheimen Rhythmus beftimmt 
und nach ungeahnten Zielen geleitet, das bei jedem Schritte 
neue Überrafchungen zu enthüllen bat! Schließlich beftehen die 
ungeheuer ft en und komplizierteften Gebilde der Natur aus einer 
Anreihung und Verkettung einfachfter Elemente, und wenn man 
will, find die ehr furchterregenden gotifchen Dome nichts weiter 
als Stein auf Stein. Die bolländifcbe Landfcbaft ift nicht in ge» 
wohnlichem Sinne Landfcbaft, fondern wundervolle Architektur, 
in einem märchenhaften Stile gebildet aus jenen natürlichen 
Elementen von Wiefenfläcbe und Baumkronen. Nicht nach dem 
Zufall des natürlichen Seins geworden, fondern planvoll geordnet 
nach menfcblicbem Ermeffen. Die Architektur diefer Landfcbaft 
kennt keine Terrainerhebungen; fie ift horizontal gegliedert in 
regelrechte fmaragdgrüne Felder, von Kanälen wie in Kriftall 
gefaßt; diefem Mofaik entlang gebt die vertikale Gliederung, 
die Säulenftellung der hoben Bäume in drei Ordnungen mit 
Durchblicken dazwifchen; als niederfte die Weißdornhecken, dar» 
über die Kronen der Weiden in ebenmäßiger Reibe, und diefe 
weit überragend die hoben Aufftrebungen der Linden. Die 
Straßen, in dichter Reibe von den Bäumen behänden, find da» 
durch monumental; ihre Erhabenheit befchaut fich mit felbft» 
genügfamer Würde in dem klaren Spiegel der Wafferläufe, und 
fernher künden die hochgetragenen Kronen ihren majeftätifchen 
Zug. - In gefcbloffenen Mafien rücken fie blaufcbimmernd am 
Horizont zufammen; fie geben die Ahnung von riefigen Parks, 
in deren Grunde Königsfchlöffer liegen müßten, verwunfchen 
und unerreichbar, wie immer fich auch der Scbauplatj ändern 
mag. - In immer neuen und feltfameren Bildern rollen die Er» 
fcbeinungen ab, immer neu und eigenartig ift das Maß ihrer 
Raumverteilung. Da und dort flammt das Rot der Backftein» 
bauten auf, Bauerngeböfte, im Viereck gelagert, die Bäume 
treten um fie in einem Ring zufammen, eine grüne Scbu^wand 
bildend und zwifcbendurcb aus dem warmen Ton der Wandung 
fcblägt der Kontraft von Blau und Weiß der Fenfter lindernd 
durch. Im Dämmer der Ferne fließen die Erhebungen zu 
kompakteren Mafien zufammen; den Wipfeln folgen Dächer, 
eine ganze Stadt; wie vorhin einzelne übermächtige Baumriefen 
erbeben fich nun über dem Gewirr die Türme der Kathedralen; 
auch fie verfinken im einerlei Blau der Ferne wie die wälder» 
artigen Baumreiben und außerhalb der kunftreichen Städte er» 
ftreckt fich wieder das Paradies des offenen Landes, die Idylle 
der grünen futterreichen Weideplätze, wo der biblifchen Legende 
gleich allerlei Getier, Rind, Pferd, Schwein und Schaf im fried» 
liehen Nebeneinander grafen, die Störche wandeln und feierliche 
Schwäne auf den füllen Waffern ziehen. Es ift das Eden des 
Nordens. □ 
Aber über diefer Welt des feften, ruhigen Seins türmt fich 
eine andere auf, ungleich beweglicher, großartiger und wecbfel» 
voller, der mächtige, weite Himmel mit feinen wunderbaren 
ewig veränderlichen Wolkengebilden. Die kühne Groteske der 
Windmühlen febneidet mit riefigen Gitterarmen hinein, allein 
ihre Ungeheuerlichkeit, ihr machtvolles Verlangen, den Atbem 
der fernen See in ihre ausgebreiteten Arme zu faffen, erfcheint 
hilflos und ftarr, verglichen mit der unberechenbaren und 
pbantafievollen Laune der bilderreichen Atmofpbäre. Sie ift die 
eigentliche Seele, das geiftige und künftlerifcbe Ich der bollän» 
difchen Landfcbaft, die Sphäre der Stimmungen, die jeden Grad 
von Trauer oder Heiterkeit über das Antlitz der Erde verhängen 
kann, und in einer Stunde eine ganze Skala von Empfindungs» 
momenten bervorzaubert. Sie erfüllt den Sebnfucbtstraum des 
Flacbländers und baut in luftiger Wefenheit das Gebirge auf, 
das der bolländifcben Erde fehlt, und das die Pbantafien der 
niederländifcben Künftler erfüllt, ein feböneres Gebirge, als es 
die Alpen find, unwirklich und märchenfchön, wie die Bilder der 
alten Meifter, die ihre febönften Berglandfcbaften aus den Träumen 
ihres nordifchen Himmels geholt haben. □ 
An diefer wunderbaren fehöpferifeben Unruhe des Luftreiches 
ift die Erde beteiligt. Sie gleicht der empfänglichen Zufchauerin, 
deren Mienenfpiel alle Vorgänge mit lebhaftem Ausdruck be» 
gleitet und jede Wirkung reflektiert, hier in fonnigem Lächeln 
erftrahlt, wenn zwilchen Wolkenfcbleiern der Himmel fein blaues 
Auge auffcblägt, dort in flüchtigen Schatten erfebauert, die, über 
das ganze Antlitz bufchend, die Pbyfiognomie mit feltfamer 
Angftlichkeit furchen, je nachdem eine dunkle Wolke mit einfach 
großer Gefte oder mit drohendem Ungeftüm den formenreichen 
Himmel durchmißt. □ 
Aber diefe Erfcheinungen würden nichts zu fagen haben, wenn 
fie nicht das große Zaubermittel in ihren magifchen Händen 
hätten, um alles Wunderbare bervorzubringen: das Licht. Es 
befitzt alle Gebeimniffe der künftlerifcben Wirkung, um welche 
die großen bolländifcben Maler unermüdlich gerungen haben, 
ohne jemals diefen tiefen Brunnen, der noch Unendliches birgt, 
ausfeböpfen zu können. Es macht alle Fernen, die Wälder und 
Baumreiben am Horizont tief und geheimnisvoll, verbreitet, 
wenn die Erde dunkel ift, noch eine ungewiffe küble Helligkeit 
über dem Himmel, jene zarte Atmofpbäre eines Vermeer van 
Delft, die das Rot und Blau der Dächer mit dem Zitronengelb 
der fonnigen Stellen und das Dunkel der bufebenden Schatten 
zu einer klaren, wunderfam milden Farbenbarmonie verbindet, 
es bricht gegen Abend in den hoben Alleen, die mit einem 
Wald von Säulen gotifchen Domen gleichen, zuoberft herein, 
in abgetönten Farben, wie durch Kirchenfenfter, und erfüllt die 
unabfebbaren Langfcbiffe mit grünem Dämmer, der die fuchenden 
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