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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 3. Jahrgang 1906/07

L.: HOLLÄNDISCHE REISESKIZZEN 
IV. 
DIE STHDT RLS KUNSTWERK 
nvetkennbat ift die treibende Macht, die in der Entwick= 
lung der bolländifcben Städte am Werk war. Die Hn= 
läge dient den Bedürfnilfen des Handels; ein Kaufmanns 
volk, das ficb frühzeitig als freies Bürgertum gegen Defpoten- 
berrfcbaft behauptet hat, drückt dem Bild der Städte feinen 
Stempel auf. Marktplat), Rathaus und Börfe bilden den Ziel 
punkt des ftädtifchen Entwicklungsganges; dieBaukunft bat keine 
größere Hufgabe, als diefen Verkörperungen der berrfcbenden 
Macht den charakteriftifchen Husdrudc im Bild der Städte zu geben. 
Der Hochadel, in feudalen Ländern ein bedeutfames Glied der 
Kulturbildung, kommt hier ganz in Wegfall; der wichtige An 
reger für alle Fragen der perfönlicben Kultur und der künftle- 
rifeben Bildung fehlt, und mit ihm das Vorbild eines Bauherrn, 
der für fein Wohnen und feine Lebenshaltung die Bedürfniffe 
eines erlefenen Gefcbmacks bat. Infolgedeffen hat die private 
Baukunft keine Aufgaben gefunden; private Kunftfammlungen, 
von wenigen Ausnahmen abgefeben, haben ficb nicht entwickeln 
können. Die ganze Gefellfcbaft ift bürgerlich. □ 
Vor dem Freibeitskampf gab es eine künftlerifcbe Lebensmacbt, 
deren Werke noch in allen Städten, neben den Symbolen der 
bürgerlichen Macht, überwältigende Denkmale ihres Größen- 
finnes binterlaffen bat: die Kirche. Die gotifeben Dome in Hol 
land find die ergreifendften Brucbftücke einer abgeftorbenen 
Macht, die in den Gemütern der Bevölkerung gewurzelt hatte. 
Der Bilderfturm und die puritanifebe Gefinnung des Volkes bat 
fie zur Ruinenbaftigkeit verurteilt; trotzdem find fie beute noch 
die Träger der Monumentalität, deren Größenbaftigkeit niemals 
wieder erreicht wurde, und die den Städten immer noch die 
entfebeidendfte äußere Cbarakteriftik verleiben. Ohne diefe Dome 
und ihren mächtigen Türmen würden die Städte nicht fein, 
was fie find; die Gefinnung, die aus der Enge und Flachheit des 
Landes binausbebt und übermenfchlich emporftrebt, drücken 
diefe Dome baukünftlerifch aus. Niemals bat die fpätere Ge 
finnung für diefen Ausdruck die ausreichende Kraft befeffen. 
Sie ift gewiß die Kraft des mittelalterlichen Volkes gewefen, 
Lukas van Leiden hat für feine Zeit und fein Volk nicht mehr 
oder weniger getreu die volkstümliche Empfindungsweife aus- 
gefprochen, als die Baukünftler fie in den Domen ausgedrückt 
haben. Die religiöfe Anfcbauung war eben die volkstümliche; 
aber in einem fo intenfiven Grade, daß fie den Alltag nicht 
anders als in der Entrücktheit einer idealiftifcben Auffaffung 
feben konnte. Alles Denken fammelte ficb in diefem gemein- 
famen Mittelpunkt und wuchs zu der wunderbaren Begeifte- 
rung, die notwendige Vorausfetjung zur Hervorbringung folcber 
überwältigender Schöpfungen ift. Noch immer ift die religiöfe 
Empfindungsweife des bolländifcben Volkes mächtig; noch konnte 
Rembrandt, neben Franz Hals der typifche Künftler der neuen 
Weltanfcbauung, alle frommen Legenden aus diefem unverfieg- 
lieben Wonnebrunnen fdböpfen und feiner Zeit im Geifte der 
Bibel ihr eigenes Spiegelbild zeigen. In der Gotik lag mehr 
nationaler Geift, als in allen Bauwerken der zu nationaler Selbft- 
berrlicbkeit erftandenen Republik. Die italienifcben Städterepu 
bliken gaben der nordifeben Pbantafie das künftlerifcbe Vorbild; 
äußerlich kleidet ficb das aus dem Unabbängigkeitskampfe zur 
felbftbewußten Nation erftarkte Holland in die Formen der Re- 
naiffance, die mit dem Gedanken der Freiheit identifcb werden; 
allein die Werke des genialen Begründers der bolländifcben Re- 
naiffance, des Haarlemer Steinbauers Lieven de Keys und aller 
feiner Nachfolger find nur in Äußerlichkeiten reformatorifcb, fie 
tragen den neuen Stil als eine unorganifche Zutat, ähnlich wie die 
Mijnheers die fpanifchen und italienifcben Koftüme trugen, mehr 
als Maskerade, nicht als Kleid. Die neue Baukunft konnte nichts 
Wefentliches tun, fie nahm nur zu leiben und drapierte mit dem 
Geliehenen die urfprünglicben Bauformen, die ihnen aus alter 
volkstümlicher Überlieferung geläufig waren. Die Grundform der 
Wobnbäufer und Bauwerke ift denn immer gotifch geblieben, fie 
ift es bis auf den heutigen Tag; weder die Renaiffance noch das 
Barode oder fonft ein Stil konnten die urfprünglicbe Anlage ver 
ändern; wir finden Stadtwagen, Börfen und andere öffentliche 
Gebäude, die der Renaiffancezeit angeboren und unverkennbar auf 
gotifeber Überlieferung beruhen; wir finden in den alten Straßen 
der Städte Bürgerbäufer der Gotik, Renaiffance, des Barock 
und der neueren Zeit nebeneinander, aber der Grundriß bei 
den neueften ift derfelbe wie in den älteften Häufern, die aus 
dem gotifeben Zeitalter erhalten find. Der heimatliche Stil war 
im gotifeben Mittelalter ausgebildet worden, alle fpäteren Stile 
waren als Modefache mit mehr oder minder bedeutenden Spuren 
vorübergegangen, aber fie batten nie mehr als die Schmuck 
formen geliefert. Allein die Scbmuckformen werden mit großer 
Selbftändigkeit zu großen äußeren Wirkungen bearbeitet, wie 
es der Stärke des nachwirkenden gotifeben Geiftes geziemend 
erfebeint; die Renaiffanceeinflüffe in Leiden und Haarlem, der 
barocke Prunk in nordbolländifcben Städten wie Alkmaar und 
Hoorn haben in der nationalen Anpaffung nichts an Größe und 
Wirkfamkeit verloren. Daß kleinliche Gefinnung nicht die Marke 
der Zeit war, zeigte ficb im Bauen, auch dann, wenn das fremde 
Genie zu Gevatter ftand. a 
Nur das Bauernhaus blieb von den Stilwandlungen unberührt. 
In ihm ift ein Vorrat urfprünglicher volkstümlicher Bauüber 
lieferungen aufgefpart, aus dem die moderne bürgerliche Bau 
kunft neue Ideen fchöpft. Auch die jüngfte Entwicklung ift ge 
nötigt von den Quellen auszugeben. □ 
Der politifchen Bedeutung der alten Refidenzböfe, die neben 
der Kirche feit der Erhebung der bürgerlichen Macht zur Be- 
deutungslofigkeit berabgefunken find, entfpriebt die zentrale 
Lage. Die Refidenzböfe wurden nachmals in Stadtbäufer um 
gewandelt, oder die Bürgerfchaft erbaute ein neues Stadthaus 
am Marktplat), im Renaiffanceftil, an Monumentalität die be- 
febeidenen gotifeben Prinzenböfe übertrumpfend. Diefe burgen 
artigen Prinzenböfe waren nach ftrategifeben Abfichten angelegt 
und batten den Verteidigungszweck im Auge; die Stadtbäufer 
dienten der Repräfentation. In Delft, den Haag, Leiden, Haarlem 
ift diefe Entwicklung, das Zurücktreten der Adelsmacht zugunften 
des Bürgertums, aus dem baukünftlerifcben Stadtgefüge mühe 
los zu entziffern. Der Haag bildet infofern eine Ausnahme, als 
das Gravenbage bis beute Sit) der Regierung geblieben ift; der 
Binnenbof mit dem Vijver als Waffergraben an der Nordfeite 
der Gebäude bat ficb als eine ftattlicbe Stadtburg Hollands er 
halten. Es ift ein Konglomerat von Gebäuden, zu denen die 
Gefangenpoort und der Buitenbof gehören; die Wälle und 
Gräben, durch die die Anlage gefiebert war, exiftieren allerdings 
nicht mehr. D 
Der Reihenfolge nach verkörpern die Refidenzböfe und die 
Kirche, der große Marktplatj und die Stadtbäufer die Träger 
der Macht, von denen die Stadtentwicklung beftimmt war. Als 
die Keimzelle des ftädtifchen Wachstums liegen fie im Kerne des 
Stadtbildes. Nach der heutigen Lage der Dinge bat man vom 
Marktplat), dem Kriftallifationspunkte des Stadtgebildes aus, 
den Schlüffel zum Stadtganzen. Vergangenheit und Gegenwart 
rücken hier auf eine Bildfläche zufammen, in charakteriftifchen 
Ablagerungen gibt ficb hier die fcbickfalreicbe Entwicklungs- 
gefebiebte kund. Um diefes Herz des Stadtlebens gruppiert ficb 
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