L.: HOLLÄNDISCHE REISESKIZZEN
IV.
DIE STHDT RLS KUNSTWERK
nvetkennbat ift die treibende Macht, die in der Entwick=
lung der bolländifcben Städte am Werk war. Die Hn=
läge dient den Bedürfnilfen des Handels; ein Kaufmanns
volk, das ficb frühzeitig als freies Bürgertum gegen Defpoten-
berrfcbaft behauptet hat, drückt dem Bild der Städte feinen
Stempel auf. Marktplat), Rathaus und Börfe bilden den Ziel
punkt des ftädtifchen Entwicklungsganges; dieBaukunft bat keine
größere Hufgabe, als diefen Verkörperungen der berrfcbenden
Macht den charakteriftifchen Husdrudc im Bild der Städte zu geben.
Der Hochadel, in feudalen Ländern ein bedeutfames Glied der
Kulturbildung, kommt hier ganz in Wegfall; der wichtige An
reger für alle Fragen der perfönlicben Kultur und der künftle-
rifeben Bildung fehlt, und mit ihm das Vorbild eines Bauherrn,
der für fein Wohnen und feine Lebenshaltung die Bedürfniffe
eines erlefenen Gefcbmacks bat. Infolgedeffen hat die private
Baukunft keine Aufgaben gefunden; private Kunftfammlungen,
von wenigen Ausnahmen abgefeben, haben ficb nicht entwickeln
können. Die ganze Gefellfcbaft ift bürgerlich. □
Vor dem Freibeitskampf gab es eine künftlerifcbe Lebensmacbt,
deren Werke noch in allen Städten, neben den Symbolen der
bürgerlichen Macht, überwältigende Denkmale ihres Größen-
finnes binterlaffen bat: die Kirche. Die gotifeben Dome in Hol
land find die ergreifendften Brucbftücke einer abgeftorbenen
Macht, die in den Gemütern der Bevölkerung gewurzelt hatte.
Der Bilderfturm und die puritanifebe Gefinnung des Volkes bat
fie zur Ruinenbaftigkeit verurteilt; trotzdem find fie beute noch
die Träger der Monumentalität, deren Größenbaftigkeit niemals
wieder erreicht wurde, und die den Städten immer noch die
entfebeidendfte äußere Cbarakteriftik verleiben. Ohne diefe Dome
und ihren mächtigen Türmen würden die Städte nicht fein,
was fie find; die Gefinnung, die aus der Enge und Flachheit des
Landes binausbebt und übermenfchlich emporftrebt, drücken
diefe Dome baukünftlerifch aus. Niemals bat die fpätere Ge
finnung für diefen Ausdruck die ausreichende Kraft befeffen.
Sie ift gewiß die Kraft des mittelalterlichen Volkes gewefen,
Lukas van Leiden hat für feine Zeit und fein Volk nicht mehr
oder weniger getreu die volkstümliche Empfindungsweife aus-
gefprochen, als die Baukünftler fie in den Domen ausgedrückt
haben. Die religiöfe Anfcbauung war eben die volkstümliche;
aber in einem fo intenfiven Grade, daß fie den Alltag nicht
anders als in der Entrücktheit einer idealiftifcben Auffaffung
feben konnte. Alles Denken fammelte ficb in diefem gemein-
famen Mittelpunkt und wuchs zu der wunderbaren Begeifte-
rung, die notwendige Vorausfetjung zur Hervorbringung folcber
überwältigender Schöpfungen ift. Noch immer ift die religiöfe
Empfindungsweife des bolländifcben Volkes mächtig; noch konnte
Rembrandt, neben Franz Hals der typifche Künftler der neuen
Weltanfcbauung, alle frommen Legenden aus diefem unverfieg-
lieben Wonnebrunnen fdböpfen und feiner Zeit im Geifte der
Bibel ihr eigenes Spiegelbild zeigen. In der Gotik lag mehr
nationaler Geift, als in allen Bauwerken der zu nationaler Selbft-
berrlicbkeit erftandenen Republik. Die italienifcben Städterepu
bliken gaben der nordifeben Pbantafie das künftlerifcbe Vorbild;
äußerlich kleidet ficb das aus dem Unabbängigkeitskampfe zur
felbftbewußten Nation erftarkte Holland in die Formen der Re-
naiffance, die mit dem Gedanken der Freiheit identifcb werden;
allein die Werke des genialen Begründers der bolländifcben Re-
naiffance, des Haarlemer Steinbauers Lieven de Keys und aller
feiner Nachfolger find nur in Äußerlichkeiten reformatorifcb, fie
tragen den neuen Stil als eine unorganifche Zutat, ähnlich wie die
Mijnheers die fpanifchen und italienifcben Koftüme trugen, mehr
als Maskerade, nicht als Kleid. Die neue Baukunft konnte nichts
Wefentliches tun, fie nahm nur zu leiben und drapierte mit dem
Geliehenen die urfprünglicben Bauformen, die ihnen aus alter
volkstümlicher Überlieferung geläufig waren. Die Grundform der
Wobnbäufer und Bauwerke ift denn immer gotifch geblieben, fie
ift es bis auf den heutigen Tag; weder die Renaiffance noch das
Barode oder fonft ein Stil konnten die urfprünglicbe Anlage ver
ändern; wir finden Stadtwagen, Börfen und andere öffentliche
Gebäude, die der Renaiffancezeit angeboren und unverkennbar auf
gotifeber Überlieferung beruhen; wir finden in den alten Straßen
der Städte Bürgerbäufer der Gotik, Renaiffance, des Barock
und der neueren Zeit nebeneinander, aber der Grundriß bei
den neueften ift derfelbe wie in den älteften Häufern, die aus
dem gotifeben Zeitalter erhalten find. Der heimatliche Stil war
im gotifeben Mittelalter ausgebildet worden, alle fpäteren Stile
waren als Modefache mit mehr oder minder bedeutenden Spuren
vorübergegangen, aber fie batten nie mehr als die Schmuck
formen geliefert. Allein die Scbmuckformen werden mit großer
Selbftändigkeit zu großen äußeren Wirkungen bearbeitet, wie
es der Stärke des nachwirkenden gotifeben Geiftes geziemend
erfebeint; die Renaiffanceeinflüffe in Leiden und Haarlem, der
barocke Prunk in nordbolländifcben Städten wie Alkmaar und
Hoorn haben in der nationalen Anpaffung nichts an Größe und
Wirkfamkeit verloren. Daß kleinliche Gefinnung nicht die Marke
der Zeit war, zeigte ficb im Bauen, auch dann, wenn das fremde
Genie zu Gevatter ftand. a
Nur das Bauernhaus blieb von den Stilwandlungen unberührt.
In ihm ift ein Vorrat urfprünglicher volkstümlicher Bauüber
lieferungen aufgefpart, aus dem die moderne bürgerliche Bau
kunft neue Ideen fchöpft. Auch die jüngfte Entwicklung ift ge
nötigt von den Quellen auszugeben. □
Der politifchen Bedeutung der alten Refidenzböfe, die neben
der Kirche feit der Erhebung der bürgerlichen Macht zur Be-
deutungslofigkeit berabgefunken find, entfpriebt die zentrale
Lage. Die Refidenzböfe wurden nachmals in Stadtbäufer um
gewandelt, oder die Bürgerfchaft erbaute ein neues Stadthaus
am Marktplat), im Renaiffanceftil, an Monumentalität die be-
febeidenen gotifeben Prinzenböfe übertrumpfend. Diefe burgen
artigen Prinzenböfe waren nach ftrategifeben Abfichten angelegt
und batten den Verteidigungszweck im Auge; die Stadtbäufer
dienten der Repräfentation. In Delft, den Haag, Leiden, Haarlem
ift diefe Entwicklung, das Zurücktreten der Adelsmacht zugunften
des Bürgertums, aus dem baukünftlerifcben Stadtgefüge mühe
los zu entziffern. Der Haag bildet infofern eine Ausnahme, als
das Gravenbage bis beute Sit) der Regierung geblieben ift; der
Binnenbof mit dem Vijver als Waffergraben an der Nordfeite
der Gebäude bat ficb als eine ftattlicbe Stadtburg Hollands er
halten. Es ift ein Konglomerat von Gebäuden, zu denen die
Gefangenpoort und der Buitenbof gehören; die Wälle und
Gräben, durch die die Anlage gefiebert war, exiftieren allerdings
nicht mehr. D
Der Reihenfolge nach verkörpern die Refidenzböfe und die
Kirche, der große Marktplatj und die Stadtbäufer die Träger
der Macht, von denen die Stadtentwicklung beftimmt war. Als
die Keimzelle des ftädtifchen Wachstums liegen fie im Kerne des
Stadtbildes. Nach der heutigen Lage der Dinge bat man vom
Marktplat), dem Kriftallifationspunkte des Stadtgebildes aus,
den Schlüffel zum Stadtganzen. Vergangenheit und Gegenwart
rücken hier auf eine Bildfläche zufammen, in charakteriftifchen
Ablagerungen gibt ficb hier die fcbickfalreicbe Entwicklungs-
gefebiebte kund. Um diefes Herz des Stadtlebens gruppiert ficb
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