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Volltext: Hohe Warte - Illustrierte Halbmonatsschrift zur Pflege der künstlerischen Bildung und der städtischen Kultur, 1. Jahrgang 1904/05

DAS ENGLISCHE LANDHAUS. 
DIE ARBEITERHÄUSER DER BOURNVILLE- 
KOLONIE 
ERBAUT VON W. A. HARVEY. 
as englische Landhaus bildet die Grundlage des englh 
sehen Wohnungswesens. Es ist für uns architekv 
tonisch deshalb von besonderem Interesse, weil es 
für die Entwicklung des modernen Bauwesens auf 
Grundlage der volkstümlichen und bodenständigen Baukunst 
ein lehrreiches Beispiel darbietet. Was zu lernen ist, soll nicht 
eine Nachahmung ihrer Bauform sein, sondern die Auf* 
nähme des Grundgedankens der bürgerlichen englischen Haus^ 
architektur, daß die künstlerische oder handwerksmäßige Ent-- 
wicklung von der heimischen Tradition ausgehen muß, die 
auch bei uns in allen Gegenden eine Fülle von charakterü 
stischen Beispielen überliefert hat. Daß diese Beispiele nicht 
im Wege der Nachahmung verwertet werden dürfen, sondern 
als Vorbild einer organischen Bauentwicklung für unsere 
Kultur nutzbar gemacht werden können, und auf welche Art, 
wird für uns nach wie vor ein vielverzweigtes und schier 
unerschöpfliches Thema sein. Diesen baukünstlerischen Grunde 
satz durch ein fremdes Beispiel zu erhärten, dazu bieten 
zunächst unsere Bilder Gelegenheit, in denen Familienhäuser 
der Bournville^Kolonie, die der Architekt W\ A. Harvey erbaut 
hat, gezeigt werden. Auf den ersten Blick ist es zu erkennen, 
daß der Vorzug dieser neuen Wohnhäuser im engen Anschluß 
an die lokale Bauüberlieferung liegt. Bournville ist eine Arbeiter^ 
kolonie und als solche volkswirtschaftlich und künstlerisch eine 
Schöpfung von großer Tragweite, die zur Gartenstadt-Bewegung 
in England, Deutschland und Belgien den Anstoß gegeben hat. 
Einer Schilderung der Hausarchitektur von Bournville muß 
daher eine nationalökonomische Darstellung zu gründe gelegt 
werden. Es ist vielleicht neben der Arbeiterkolonie Port 
Sunlight die erste moderne Gründung, in der die wirtschafte 
liehen, sozialen und künstlerischen Bestrebungen zur gegem 
seitigen Förderung Hand in Hand gehen. Die deutsche Gartem 
stadt-Gesellschaft weist in ihren Flugschriften mit besonderem 
Nachdruck auf dieses Vorbild hin und ihr Wortführer Hans 
Kampffmeyer entwirft in wenigen Zügen ein zutreffendes 
Bild der Kolonie. 
Bournville ist eine Gründung des bekannten Kakaofabrikanten 
Cadbury, der vorher in Birmingham das Wohnungselend 
mit all seinen hygienischen, wirtschaftlichen und ethischen 
Mißständen kennen gelernt hatte. Er sah voraus, daß die 
Beibehaltung dieses Wohnungssystems die völlige Entartung 
der englischen Rasse zur Folge haben müsse, und wollte 
durch ein praktisches Experiment zur Lösung dieser 
brennenden Zeitfrage beitragen. Fünf Kilometer weit von 
Birmingham kaufte er in schöner Lage ein Gelände von 
500 Morgen, behielt 100 Morgen für seine Werkstätten und 
begann auf den übrigen 400 Morgen Wohnhäuser zu er^ 
richten, die er zu billigem Preise an seine und an fremde 
Arbeiter vermietete. Als dann nach einiger Zeit das Miets^ 
einkommen eine Verzinsung des Anlagekapitals und eine 
gesunde Weiterentwicklung des Unternehmens verbürgte, 
schenkte er die ganze Anlage, die einen Wert von fünf 
Millionen darstellte, der Gemeinde, mit der Bestimmung, daß 
der Grund und Boden für alle Zeit Gemeindeeigentum 
bleiben solle. Die Mietsüberschüsse sollten zunächst zum 
weiteren Ausbau von Bournville und später zur Gründung 
von weiteren ähnlichen Niederlassungen verwendet werden. 
Bournville ist heut ein blühender und gesunder Ort von 
2500 Einwohnern. Breite, baumbepflanzte Straßen führen 
hindurch. Vor jedem der schmucken Häuser liegt ein Blumem 
gärtchen. An die Rückseite schließt sich ein großer Gemüse 
garten, dessen Bestellung sich die Leute in ihren Muße 
stunden mit großem Eifer widmen, und dessen Ertrag zirka 
ein Drittel der Miete für Haus und Garten beträgt. Bei den 
Entwürfen für die Häuser hat der Architekt der Gemeinde, 
Mr. Harvey, an den ortsüblichen Landhausstil frei angeknüpft. 
Die ganze Anlage verschmilzt infolgedessen mit der Land 
schaft zu einem harmonischen Ganzen. Man hat den Ein 
druck, daß der Ort von jeher dort gelegen habe. 
Von den ansprechenden Architekturen geben die beigefügten 
Abbildungen eine Vorstellung. Die wechselnden Formen 
und Farben der Fassaden stimmen sehr wohltuend zu den 
Gärten ringsum. Und hinter der äußeren Ausstattung bleibt 
die innere nicht zurück. Zum Beleg dafür diene eins der 
kleinsten Häuser, das mit dem zugehörigen Blumen- und 
Gemüsegarten für den wöchentlichen Mietpreis von fünf 
Mark abgegeben wird. Im Erdgeschoß befindet sich eine 
außerordentlich geräumige Wohnstube mit freundlichem 
Erker und schön ausgestattetem Kaminplatz, daneben eine 
große Küche mit praktischer Badeeinrichtung. Im ersten Stock 
liegen drei lichte Schlafzimmer. Auch die einfachen und soliden 
Möbel sind nach den Entwürfen des obenerwähnten Archi 
tekten gefertigt und zu einem mäßigen Preise käuflich. Alles 
in diesem Arbeiterhäuschen atmet wohltuende Ruhe und 
Behaglichkeit. 
Der Gemeinsinn, der solche Wohnstätten schuf, betätigte 
sich auch in Wohlfahrtseinrichtungen anderer Art. Es besteht 
ein Altersversorgungsheim, ein Waisenhaus, ein Erholungs 
haus für schwache Stadtkinder. Große Parkanlagen und Spiel 
plätze ziehen sich mitten durch den Ort. Ein mächtiger Saal 
dient für öffentliche Versammlungen aller Art, für Vorträge, 
Konzerte und sonstige künstlerische Darbietungen. In dem 
hübschen Bibliotheksgebäude erfreuen sich die Lesezimmer 
lebhaften Zuspruchs, und abends werden Vortragszyklen 
veranstaltet. Die Mädchen erhalten unter anderem auch 
Handarbeitsunterricht. Dabei hat sich die Notwendigkeit her 
ausgestellt, sie vorerst im Zeichnen zu unterweisen, und 
heute führt bereits eine ganze Anzahl von ihnen ihre 
Stickereien, Schnitzereien und sonstigen kunstgewerblichen 
Arbeiten nach eigenen Entwürfen aus. überhaupt wird es 
einem jeden nahegelegt, seine Mußestunden durch irgend 
eine Liebhaberei in edler Weise auszufüllen. 
Eine neue Förderung werden diese kunstgewerblichen Be 
strebungen durch das Denkmal erhalten, das die Ruskin- 
gesellschaft dem Kunstschriftsteller auf einem von der Ge 
meinde überlassenen Grundstück errichtet. Es ist keine 
„Figur“, sondern ein stattliches Gebäude, in dem man die 
Lehren des Meisters praktisch verwerten will. Im Erdgeschoß 
befindet sich neben einem Bibliothekzimmer der große Lese 
saal, der auch zu Vorträgen und zum Zeichenunterricht dienen 
soll. Darüber liegt ein großer Saal für Ausstellungszwecke, 
die zahlreichen Nebenräume aber sollen als Unterrichtswerk 
stätten für die verschiedenen Kunsthandwerke benutzt werden. 
Als Mr. Cadbury der Gemeinde das königliche Geschenk 
der Gründung in ihr Eigentum übergab, besaß der Ort 350 
Familienwohnhäuser. Seit dieser Zeit (es geschah im De 
zember 1900) wurde fortwährend gebaut und es stehen heute 
500 Häuser. Die meisten vor 1901 erbauten Cottages haben 
2 Wohnstuben, eine Küche und 3 Schlafzimmer. Seither hat 
man größere gebaut mit 4—5—6 Schlafzimmern und einem 
Badezimmer mit Warm- und Kaltwasserleitung. Seit zwei 
Jahren hat man mehrere Häuser mit einem einzigen großen 
Wohnraum statt deren zwei kleinere erbaut; in anderen hat 
man in dem Boden der Abwaschküche eine verschließbare, 
vertiefte Badewanne eingelassen. Jedes Wohnhaus besitzt 
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